Tatsache Evolution
Abstammungslinien zu immer komplexeren (»höheren«) Organismen geführt hat – sonst gäbe es heute z. B. keine Bakterien und Einzeller mehr. Alt-Darwinsche Begriffe wie »primitiv«, »höher« oder »Perfektionierung « existieren seit Jahrzehnten in der Evolutionsbiologie nicht mehr.
In seinem »Artenbuch« (1859/1872) kommt Darwin in der Zusammenfassung seines Stammesentwicklungs-Kapitels (III) auf den »Baum des Lebens« (
Tree of Life
) zu sprechen. Diese Analogiebetrachtung, welche später Ernst Haeckel zur Anfertigung entsprechender Zeichnungen motiviert hat (Abb. 9.4), soll hier im Original zitiert werden: »The affinities of all the beings of the same classes have sometimes been represented by a great tree. I believe this simile largely speaks the truth. The green and budding twigs may represent existing species… As buds give rise by growth to fresh buds, and these… branch out… so by generation I believe it has been with the great Tree of Life, which fills with its dead and broken branches the crust of the earth, and covers the surface with its ever-branching and beautiful ramifications.« (»Die Verwandtschaften aller Lebewesen derselben Klasse wurden manchmal als großer Baum dargestellt. Ich glaube, dass diese Ähnlichkeit weitgehend der Wahrheit entspricht. Die grünen und knospenden Zweige repräsentieren existierende Arten … Da Knospen durch Wachstum zu neuen Knospen führen und … sich diese verzweigen … glaube ich, dass es im Verlauf der Generationen wie in einem Baum des Lebens zugegangen ist, der mit seinen toten und zerbrochenen Zweigen die Erdkruste füllt und die Oberfläche mit seinen immer mehr verzweigenden, schönen Verästelungen überdeckt .«)
Das
Tree-of-Life-Web-Projekt
, versehen mit Darwins Schlüsselzitat , wurde vor einigen Jahren als weltweites, internationales |266| Kooperationsprojekt zahlreicher Evolutionsforscher im Internet etabliert. Das Ziel besteht darin, »Darwins Traum« von der Entschlüsselung, Rekonstruktion und bildlichen Darstellungen aller Zweige des gigantischen, Millionen von Arten umfassenden »Baums (bzw. Koralle) der Organismen« zu verwirklichen. Die Evolutionsforscher verwenden heute das Methodenarsenal der molekularen Phylogenetik. Die Grundlagen dieser Verfahren sind in den nächsten Abschnitten umrissen .
Abb. 9.4: Reproduktion von Ernst Haeckels Stammbaum der Säugetiere unter Einbeziehung des Menschen. An der Basis zweigen die Kloakentiere (Monotremata ) mit dem Schnabeltier (
Ornithorhynchus
) ab. Die Wale (Cetacea) werden als weiterentwickelte Flusspferde (
Hippopotamus
) interpretiert. Rüsseltiere (Proboscidea) stehen in der Mitte des Systems. Rechts oben ist als nächster Verwandter des Menschen der Gorilla angegeben.
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Chromosomen, Gene und Genome
Es sei vorab ausdrücklich hervorgehoben, dass die moderne Evolutionsbiologie neben der auf geochronologischen Datierungsverfahren basierenden Paläobiologie (s. Kapitel 6 und 7) und der Endosymbioseforschung (Kapitel 8) das umfassende Methodenarsenal der molekularen Phylogenetik einsetzt. Im Gegensatz zur Symbiogenese- und Paläo-Biologie können die komplexen, u. a. auf speziellen Computerverfahren aufbauenden Prinzipien der DNA-Analytik und der Erstellung molekularer Stammbäume (Phylogenien) nicht in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Allgemeine Grundlagen dieser Wissenschaftsdisziplin sind u. a. in Fachbüchern beschrieben, auf die hier verwiesen werden soll (Knoop und Müller 2006, Storch et al. 2007, Kutschera 2008 a).
Wie in Kapitel 3 dargelegt wurde, behandelte Darwin (1859/ 1872) das Problem der erblichen Variabilität in Populationen von Tieren und Pflanzen, ohne dass er die Grundprinzipien der Informationsweitergabe bei der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung kannte (Mendelsche Gesetze, s. Kapitel 2 und 3). Erst nach 1900 wurde entschlüsselt, dass die »Mendelschen Erbfaktoren « auf fadenförmigen Strukturen, die nur in sich teilenden Zellen sichtbar werden, lokalisiert sind. Diese anfärbbaren Zellkern-Bestandteile werden als
Chromosomen
bezeichnet. Obwohl die hieraus abgeleitete Chromosomentheorie des genetischen Informationstransfers ein Quantensprung im Verständnis von Vererbungs(und somit Evolutions)-Vorgängen darstellte, |267| kannte man bis 1940 die zu Grunde liegende Erb-Substanz nicht (s. Kapitel 3). Oswald T. Avery (1877 – 1955) und Mitarbeiter wiesen dann aber 1944 definitiv nach, dass das geheimnisvolle Erbmolekül nicht z. B. aus
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