Tatsache Evolution
Merezhkowsky ein zentrales »anti-Darwinsches« Evolutionsprinzip postuliert, welches vielfach bestätigt werden konnte (Abb. 8.7). So sind z. B. die in Abb. 8.9 dargestellten Dinoflagellaten (Dinophyten) über eine sekundäre Endosymbiose entstanden. Die wichtigsten Primärproduzenten im Plankton unserer Ozeane evolvierten somit im Makro-Maßstab nach dem Merezhkowsky-Wallinschen »Integrations-Kooperations-Prinzip «, wobei bei stetiger Überproduktion an Nachkommen die nachgeschaltete natürliche Auslese von entscheidender Bedeutung war (selektives Überleben jener Zell-Chimären, die an die Umwelt adaptiert waren). Heute wissen wir, dass die bei der primären bzw. sekundären Endosymbiose aufgenommenen (phagocytierten) Alpha-Proteobakterien und Cyanobakterien (bzw. kernhaltige Algen) nicht nur domestiziert , sondern nach und nach
versklavt
wurden. Die Wirtszelle sorgte im Verlauf der Jahrmillionen über einen horizontalen Gen(DNA)-Transfer dafür, dass die Organellen vom unabhängigen Gast zum weisungsgebundenen Diener wurden. Über 90 % des ehemaligen Mitochondrien- und Chloroplasten-Genoms wurde nachgewiesenermaßen in den Kern der Wirtszelle verlagert . Interessanterweise bezeichnet Merezhkowsky in seinem »Löwen-Gleichnis« (s. oben) die Chloroplasten als »grüne Sklaven«. Der Symbioseforscher hat auch in diesem Punkt die Resultate molekular- und zellbiologischer Studien der 1990er-Jahre vorhergeahnt.
Fazit: Zwei wichtige Organellen heutiger eukaryotischer Organismen (Tiere, Pflanzen, Algen, Pilze) sind ehemals frei lebende, eingefangene, im Lauf der Jahrmillionen domestizierte bzw.
versklavte Mikroben
, die über die mütterliche Linie (Eizelle ) vererbt werden und als semi-autonome Dienstleister seit Urzeiten ihrem ehemaligen Gast-Organismus uneigennützig dienen (bzw. von diesem ausgebeutet werden). Die Symbiogenese |258| – hier als Erzeugung neuartiger Organismen aus Einzel-Zellen definiert – war somit ein wichtiger »Motor« der Makroevolution . Es sei allerdings ausdrücklich hervorgehoben, dass viele Detailfragen zur primären und sekundären Endosymbiose noch Gegenstand der Forschung sind (z. B. die Herkunft des Zellkerns). Der endosymbiontische Ursprung der Mitochondrien und Chloroplasten ist trotz dieser offenen Fragen heute eindeutig belegt.
Abb. 8.9. Originalzeichnungen von elf Arten mariner Dinoflagellaten (Dinoprotisten), die wesentliche Bestandteile im photosynthetisch aktiven Plankton der Ozeane darstellen und durch sekundäre Endosymbiose entstanden sind (nach Haeckel, E.:
Kunstformen der Natur
. Leipzig-Wien, 1904).
|259| Der in der Einleitung dieses Kapitels zitierte ungläubige Soziologe konnte nach Auflistung dieser Fakten von der Bedeutung der Symbiogenese überzeugt werden. Er verabschiedete sich mit der folgenden Frage: »Warum fehlen diese Sachverhalte in meiner Fachliteratur zum Darwinismus?« Die Antwort darauf war leicht zu geben. Die Erkenntnisse der sub-zellulären Evolutionsforschung sind außerhalb der Fachwissenschaft Evolutionsbiologie kaum bekannt – sie wurden daher in diesem Buch in Kurzform dargestellt.
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|260| 9. Von Darwins Koralle zur DNA: Molekulare Archäologie des Genoms und der Tree of Life
Am 19. August 1871 ist als bürgerliche Reaktion auf die Veröffentlichung von Darwins Büchern zum Ursprung der Arten und der Abstammung des Menschen in der Zeitschrift
Harper’s
Weekly
ein satirischer Cartoon erschienen, der in deutscher Übersetzung mit der Zeile »Der beleidigte Gorilla« unterschrieben werden könnte (Abb. 9.1). Ein aufrecht stehender »Urwald-Mensch « (
Gorilla gorilla
) ruft dem vornehm gekleideten, mit einem
Origin-of-Species-
Manuskript dargestellten Charles Darwin zu: »Dieser Mann behauptet, ich würde von ihm abstammen!« Die in der Mitte stehende Person (ein Mr. Bergh) fragt entrüstet: »Mr. Darwin, wie konnten sie ihn derart beleidigen ?« Der weinende Gorilla steht in der Eingangstür einer »Society for the Prevention of Cruelty to Animals, Pres. Bergh« (»Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten gegen Tiere, Präsident Bergh«), die damals von dem in der Mitte abgebildeten Herrn geleitet wurde.
Diese Karikatur zeigt exemplarisch, dass die Menschen im viktorianischen England in erster Linie von den anthropologischen Schlussfolgerungen Darwins geschockt waren – die Vorstellung, wir würden von affenähnlichen Urahnen abstammen , erregte damals großen Widerstand. Da Charles Darwin in seinem 1859
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