Tatsache Evolution
zweiten Publikation zog der Autor weitreichende Schlussfolgerungen zur Evolution der Organismen, die in einem Stammbaum-Diagramm veranschaulicht sind (Abb.8.5). Im Vorwort schrieb Merezhkowsky (1910), er wolle eine »neue Theorie der Entstehung der Organismen« präsentieren. Der Autor wandte sich gegen das Selektionsprinzip von Charles Darwin und setzte diesem seine
Theorie der Symbiogenesis
entgegen . Die beiden Hauptaussagen von Merezhkowsky (1910) können wie folgt zusammengefasst werden:
Ursprüngliche Moneren (kernloses Amöbenplasma) standen am Anfang der Zell-Evolution. Mikrokokken (frei lebende Bakterien), die wiederholt in diese Moneren eingedrungen sind, bildeten den Kern (Symbiose I) und ergaben einfache Tierzellen (Amöben).
In einige dieser animalischen Amöben bzw. Flagellaten drangen Cyanobakterien ein (Symbiose II), wodurch plastidenhaltige Zellen und somit Pflanzen entstanden sind.
Auf Grundlage dieser Fakten kann ein Stammbaum der Organismen abgeleitet werden, der, ausgehend von Bakterien und Moneren, zu den Pilzen, Tieren und Pflanzen führt (Abb. 8.5).
Die 1881 gegründete Zeitschrift
Biologisches Centralblatt
, in der diese neue Evolutionstheorie veröffentlicht wurde (Abb. 8.4), wird seit einigen Jahren unter dem Titel
Theory in
Biosciences
weitergeführt. Zum 100. Geburtstag von Merezhkowskys Pionierarbeit wurde dort eine umfassende Darstellung zum Stand der Endosymbioseforschung publiziert, auf die hier verwiesen werden soll (Kutschera und Niklas 2005).
1920, wenige Monate vor Merezhkowskys Tod, erschien eine dritte Abhandlung zur Symbiogenesis-Hypothese in französischer Sprache in einer heute eingestellten »anti-Darwinschen« Fachzeitschrift (Sapp et al. 2002, Geus und Höxtermann 2007). Dort hat Merezhkowsky u. a. eine Graphik mit der Unterschrift |241| »Phylogenie der Pflanzen« abgebildet, in der die Grünalgen (Chlorophyta) als Basisgruppe der Landpflanzen verzeichnet sind – diese Hypothese ist inzwischen zur gesicherten Erkenntnis geworden (Scherp et al. 2001). In dieser Abschlussarbeit zur Symbiogenesis-Hypothese würdigte Merezhkowsky (1920) u. a. die Forschungen des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel (1834 – 1919) zur Phylogenese der Pflanzen. In einer Abhandlung aus dem Jahr 1904 hatte Haeckel angemerkt, dass die Pflanzenzelle als Symbiose zweier Partner entstanden sein könnte und dass die Cyanophyceen möglicherweise als »Chloroplasten echter Pflanzen« zu betrachten sind. Merezhkowsky kommentierte 1920 diese Vorstellung wie folgt: »Heackels reine Spekulationen wurden durch keinerlei Fakten oder Argumente unterstützt. Ich formulierte als Erster die Endosymbiose-Theorie«.
Abb. 8.4: Titel von C. S. Merezhkowskys klassischer Publikation zum Ursprung der Chloroplasten und der Pflanzen, die 1905 in Band 25 der Zeitschrift
Biologisches
Centralblatt
erschienen ist und eine neue Teildisziplin der Evolutionsforschung begründet hat.
Für die Entwicklung von Merezhkowskys Symbiogenesis-Hypothese (bzw. -Theorie) waren die von Ernst Haeckel 1866 im Zusammenhang mit der Phylogeneseforschung eingeführten , als
Monera
bezeichneten Mikroorganismen von zentraler Bedeutung. Bakterien wurden von dem Jenaer Zoologen mit anderen Einzellern in der Ordnung Monera zusammengefasst, die »kernlose Mikroben« – das niedrigste Stadium im Protistenreich – repräsentieren sollten.
|242| Diese Betrachtungen zeigen, dass die Symbiogenesis-Hypothese , niedergelegt in Merezhkowskys drei Zeitschriftenaufsätzen der Jahre 1905, 1910 und 1920, eine Synthese zahlreicher Befunde anderer Forscher sowie eigener Beobachtungen (Diatomeen-Studien) und intellektueller Deduktionsarbeit waren (Hypothesen- und Theorienbildung). In analoger Weise wurde 1927 von dem russischen Biologen Iwan E. Wallin (1883 bis 1969) postuliert, dass die eingangs erwähnten Mitochondrien der Tierzellen (Abb. 8.2) aus ehemals frei lebenden Bakterien hervorgegangen sind. Merezhkowskys Spekulationen zum Ursprung der Mitochondrien haben sich, im Gegensatz zu Wallins Thesen, später als falsch erwiesen; Merezhkowskys Vorstellungen zur Entstehung des Zellkerns (seine I. Symbiose in Abb. 8.5) wurden ebenfalls widerlegt. Als Urvater der
Endosymbiontentheorie
der (grünen) Zellevolution
(Hauptaussage: Chloroplasten heutiger Pflanzen und Algen sind domestizierte bzw. versklavte Cyanobakterien) gebührt ihm jedoch ein Ehrenplatz unter den bedeutendsten Phylogeneseforschern.
Politische Utopien und Skandale (1913 bis 1918
): Während
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