Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
Schellack, dem Juwelier. Sie trug Schuhe von gutem Schnitt aus echtem Schlangenleder, aber die Absätze waren schief getreten. Ihre Strümpfe waren aus dem allerdünnsten Gewebe, denn Philipp liebtehauchdünne Strümpfe und wurde zärtlich, wenn sie im Winter bei scharfem Frost mit verkühlten Waden nach Hause kam, aber, o weh, in dem als maschenfest angepriesenen Gespinst lockerten sich die Fäden und stürzten wie rieselnde Bäche vom Knie zum Knöchel. Der Rock hatte einen Triangelriß im Saum: wer sollte ihn nähen? Emilias Pelzjacke, zu warm für die Jahreszeit, war aus feinstem Feh, zerzaust und zerrissen, was tat's, sie ersetzte den Übergangsmantel, den Emilia nicht hatte. Ihr junger Mund war geschminkt, die Blässe der Wangen mit etwas Rouge behoben, die Haare wehten offen im regennassen Wind. Die Sachen, die sie mitgenommen hatte, waren in ein englisches Reiseplaid gewickelt, dem Gepäck der Lords und Ladys bei Wilhelm Busch und in den Fliegenden Blättern. Emilia trug schwer an dem Entzücken der alten Humoristen, jede Last machte ihr rheumatische Beschwerden in der Schulter. Jede Beschwerde machte sie unleidlich und erfüllte sie mit Trotz und Verbitterung. Sie stand mißgelaunt unter der roten Ampel und blickte mißmutig in den Strom des Verkehrs.
Im Wagen des Konsuls, im lautlos und erschütterungsfrei gleitenden Cadillac, im Gefährt der Reichen auf der Seite der Reichen, der Staatsmänner, der Arrivierten, der planenden Manager, wenn man sich nicht täuschen ließ, in einem geräumigen schwarzglänzenden Sarg fuhr Mr. Edwin über die Kreuzung. Er fühlte sich müde. Die Reise, wohl liegend doch schlaflos verbracht, hatte ihn angestrengt. Er schaute entmutigt in den trüben Tag, entmutigt in die fremde Straße. Es war das Land Goethes, das Land Platens, das Land Winckelmanns, über diesen Platz war Stefan George gegangen. Mr. Edwin fror. Er sah sich auf einmal übriggeblieben, alleingelassen, alt, uralt, so alt, wie er war. Er drückte den somit alten, den noch immer jugendschlank gehaltenen Leib in die weichen Polster des Wagens. Es war eine Geste des Verkriechens. Die Krempe seines schwarzen Hutes stieß gegen die Kissen, und er legte denHut, ein federleichtes Erzeugnis der Bondstreet, in den Schoß. Sein edles, Askese, Zucht und Versenkung andeutendes Gesicht wurde böse. Unter den sorgfältig gescheitelten, seidezarten langen grauen Haaren bekam er die scharfen Züge eines alten gierigen Geiers. Der Konsulatssekretär und der literarische Impresario des Amerikahauses, die man zu Mr. Edwins Empfang an die Bahn geschickt hatte, saßen vor ihm auf den Klappsitzen des Wagens, beugten sich zu ihm zurück und fühlten sich verpflichtet, den Berühmten, den Preisgekrönten, das seltene Tier zu unterhalten. Sie deuteten auf angebliche Sehenswürdigkeiten der Stadt, sprachen über die Art, wie sie seinen Vortrag organisiert hatten, schwätzten - es hörte sich an, als schwenkten Scheuerfrauen unermüdlich die nassen Tücher über einen staubigen Boden. Mr. Edwin fand, daß die Herren den Slang der Gewöhnlichkeit sprachen. Das war ärgerlich. Mr. Edwin liebte den Slang der Gewöhnlichkeit, manchmal, wenn er sich der Schönheit gesellte, aber hier bei diesen wohlerzogenen Herren seiner Gesellschaftsklasse ›meine Gesellschaftsklasse? welche Klasse? vorurteilslos gegen jedermann, klassenloser Außenseiter, keine Gemeinschaft, keine‹ war der Slang, das wie Gummi gekaute Amerikanisch, peinlich, bedrückend und verstimmend. Edwin rutschte noch tiefer in die Wagenecke. Was brachte er dem Land mit, Goethe, Winckelmann, Platen, was brachte er mit? Sie würden empfindlich, vielleicht empfänglich sein, die Geschlagenen, sie würden wach sein, schon geweckt vom Unheil, sie würden voll Ahnung sein, näher am Abgrund, vertrauter mit dem Tod. Kam er mit einer Botschaft, brachte er Trost, deutete er das Leid? Er sollte über die Unsterblichkeit sprechen, über die Ewigkeit des Geistes, die unvergängliche Seele des Abendlandes, und jetzt? jetzt zweifelte er. Seine Botschaft war kalt, sein Wissen war erlesen. Erlesen im Doppelsinn, aus Büchern stammend, aber auch ausgewählt, ein Extrakt aus dem Geist der Jahrtausende, erlesen, aus allen Zungen erlesen, der heilige Geist,ausgegossen in die Sprachen, erlesen, kostbar, die Quintessenz, funkelnd, destilliert, süß, bitter, giftig, heilsam, fast schon die Deutung, aber die Deutung der Geschichte nur, schließlich auch diese Deutung fragwürdig, die schöngeformten
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