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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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klugen Strophen, sensible Reaktionen, und dennoch: er kam mit leeren Händen, ohne Gabe, ohne Trost, keine Hoffnung, Trauer, Müdigkeit, nicht Trägheit, Herzensleere. Sollte er nicht schweigen? Er hatte schon vorher die Zerstörungen des Krieges gesehen, wem in Europa waren sie unbekannt?, er hatte sie in London gesehen, in Frankreich, in Italien, furchtbare unverhüllte Wunden in den Städten, doch was er hier in dem wohl betroffensten Ort seiner Wanderschaft aus dem Fenster des Konsulatswagens sah, gewiegt auf Gummi, Preßluft und ingeniöser Federung, vor Staub geschützt, war aufgeräumt, geordnet, verpflastert, schon wieder hergestellt und grade darum so schrecklich, so hinfällig: es war nie wieder gut zu machen. Er sollte über Europa und für Europa sprechen, aber wünschte er geheim vielleicht die Zerstörung, die Zertrümmerung des Gewandes, in welchem der geliebte, der im Geist so sehr geliebte Erdteil sich zeigte, oder war es so, daß er, Mr. Edwin, spät auf die Reise gegangen, den spät und ach aus welchem Mißverstehen gekommenen Ruhm zu kassieren, sich feiern zu lassen, daß er die Bedeutung des Vergehens kannte, ein Freund des Vogels Phoenix war, der ins Feuer mußte, in die Asche das bunte Gefieder, diese Läden da, die Menschen, behelfsmäßig alles, das Slanggeschwätz in seinem Wagen - töricht: was sollte er ihnen sagen? Vielleicht würde er in dieser Stadt sterben. Eine Nachricht. Eine Notiz in den Abendausgaben. Ein paar Gedenkartikel in London, in Paris, in New York. Dieser schwarze Cadillac war ein Sarg. Nun streiften sie einen Radfahrer ›o weh, er schwankt, er hält sich‹ -
    Er hielt sich im Gleichgewicht. Er balancierte, strampelte, lenkte das Rad in die freie Lücke, Doktor Behude, Facharztfür Psychiatrie und Neurologie, er trat die Pedale, er kam voran, heute abend wird er im Amerikahaus den Vortrag von Mr. Edwin hören, das Gespräch über den abendländischen Geist, die Rede über die Macht des Geistes, Sieg des Geistes über die Materie, Geist bezwingt die Krankheit, Krankheiten seelisch bedingt, Leiden psychisch heilbar. Doktor Behude schwindelte. Die Blutentnahme hatte ihn diesmal geschwächt. Vielleicht ließ er sich zu oft anzapfen. Die Welt brauchte Blut. Doktor Behude brauchte Geld. Sieg der Materie über den Geist. Sollte er vom Weg abbiegen, vom Rad steigen, in eine Kneipe gehen, etwas trinken, fröhlich sein? Er schwamm im Strom des Verkehrs. Er spürte Kopfschmerzen, die er bei seinen Patienten ignorierte. Er radelte weiter auf dem Wege zu Schnakenbach, dem müden Gewerbelehrer, dem begabten Formeltüfteler, dem Volkshochschuleinstein, einem pervitin- und benzedrinsüchtigen Schatten. Behude bereute, Schnakenbach gestern die Pillen verweigert zu haben, die den Lehrer wach hielten. Nun wollte er ihm das die Sucht befriedigende, für eine Spanne das klägliche Leben erhaltende und es doch weiter zerstörende Rezept ins Haus bringen. Gern wäre er zu Emilia gefahren. Er mochte sie: er hielt sie für gefährdeter als Philipp ›der wird alles überstehen, er wird sogar seine Ehe überstehen, ein tapferes Herz, Neurosen, gewiß Neurosen, eine Pseudo-angina pectoris, gehupft wie gesprungen, aber ein tapferes Herz, man sieht's ihm nicht an‹, doch Emilia kam nicht in seine Sprechstunde und versteckte sich, wenn er Philipp zu Hause besuchte. Er übersah, daß Emilia an der Kreuzung, an der er vorüberradelte, auf das grüne Licht wartete. Er war über die Lenkstange gebeugt, die rechte Hand an der Bremse, den Zeigefinger der linken an der Klingel: ein Fehlläuten konnte töten, eine Fehlleistung entlarven, das Fehlläuten der Nachtglocke, verstand er Kafka? -
    Washington Price lenkte die horizontblaue Limousine über die Kreuzung. Sollte er? Sollte er nicht? Er wußte, daß dieTankwagen in seinem Depot geheime Zapfhähne hatten. Das Risiko war klein. Er brauchte nur mit dem Fahrer des Tanks halbpart zu machen, bei der deutschen Tankstelle, die jeder Benzinkutscher kannte, vorzufahren und sich einige Gallonen abdrehen zu lassen. Gutes Geld war ihm sicher. Er brauchte Geld. Er wollte nicht unterliegen. Er wollte Carla, und er wollte Carlas Kind. Er hatte noch keinen Punkt auf der Strafliste. Er glaubte an Anständigkeit, jedem Bürger seine Chance. Auch dem schwarzen Mann seine Chance. Washington Price Sergeant in the Army. Washington mußte reich sein. Er mußte wenigstens vorübergehend reich sein; hier und heute mußte er reich sein. Dem Reichtum würde Carla vertrauen. Sie

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