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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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daß Mimi, die geliebt, und der Bürger, der erschreckt werden sollte, daß sie beide auch schon gestorben und Figuren des Märchens geworden waren), bis die Bohème endlich in gewissen Barlokalen ihr Grabmal fand, von einer konservativen zu einer konservierten Angelegenheit wurde, ein Museumsstück, eine Attraktion für den Fremdenverkehr. Diese Lokale nun, die boites, die Mausoleen der Scènes-de-la-vie-de-bohème wurden allerdings wieder groteskerweise von Emilia, die sich auf die gehaßte Bohèmetour das Geld dazu verschaffen mußte, gerne besucht, während sie Philipp mit ihren Tanzgeschöpfen und dem Glas-Wein-Mäzenatentum der Geschäftsleute geradezu ein Greuel waren. »Wir gehen nirgendwohin«, rief Emilia dann, »du vergißt, daß ich jung bin.« Und erdachte ›ist deine Jugend so verdorrt, daß sie dieses Gusses bedarf, dieses Gusses aus Rausch, Alkohol und Synkopen, braucht dein Gefühl die Luft der Ungefühle, dein Haar den Wind schläfst-du-mit-mir-heut-nacht «aber dann rasch ich muß früh raus»?‹ Emilia stand von allen Seiten bedroht im Niemandsland. Sie war reich und war ausgestoßen von der Nutznießung des Reichtums, sie war von Pluto nicht mehr angenommen worden, sie war nicht aufgenommen, war nicht sein Kind, aber sie war auch nicht aufgenommen und nicht angenommen von der arbeitenden Welt, und dem, daß man früh-raus-mußte, stand sie mit blinder, kalter, aber vollkommen unschuldiger Ablehnung gegenüber.
Jetzt war sie vorangekommen, sie war fortgeschritten, sie hatte ein Stück des schottischen Plaidweges hinter sich gebracht. Emilia war im Leihhaus gewesen. Sie hatte in der Halle des Städtischen Leihamtes unter den Armen gestanden. Die Halle war mit Marmor verkleidet und glich einem Schwimmbassin, aus dem man das Wasser abgelassen hatte. Die Armen schwammen nicht. Sie waren untergegangen. Sie waren nicht oben. Sie waren unten. Oben, das Höhere, das Leben, ach, dieser Glanz, ach, diese Fülle, das Leben war jenseits der Marmorwände, war über dem Glasdach, das die FI alle deckte, über den milchigen Scheiben, diesem Nebelhimmel über dem Teich der Versunkenen. Sie waren am Grund des Daseins und trieben ein gespenstisches Wesen. Sie standen vor den Schaltern und hielten ihren Besitz von früher im Arm, die Habe eines anderen Lebens, das mit ihrem gegenwärtigen Leben garnichts mehr zu tun hatte, eines Lebens, das sie geführt hatten, bevor sie ertrunken waren, und das Gut, das sie zum Schalter brachten, kam ihnen wie fremder Besitz vor, wie Diebesgut, das sie versetzen wollten, und sie benahmen sich scheu wie schon ertappte Diebe. War es aus mit ihnen? Es ging zu Ende, aber noch war es nicht aus. Die Habe verband sie noch mit dem Leben, so wie Gespenster sich an vergrabene Schätze klammern; sie gehörten zur Halbwelt des Styx,noch gab es Aufschub, der Schalter lieh sechs Mark für den Mantel, drei für die Schuhe, acht für das Federbett, die Ertrunkenen schnappten nach Luft, sie wurden noch einmal ins Leben entlassen, für Stunden, für Tage, Begünstigte für Wochen VERFALLFRIST VIER MONATE . Emilia hatte silberne Fischbestecke in den Schalter gereicht. Das Renaissancemuster des Besteckes wurde nicht betrachtet, die Kunst des Silberschmiedes nicht geachtet, es wurde nach dem Silberstempel gesehen, und dann wurde das Besteck auf die Waage geworfen. Der Fischgang vom reichen Kommerzienratsmahl lag auf der Waage des Leihhauses. »Excellenz, der Salm!« Dem General des Kaisers wurde zum zweiten Mal vorgelegt. VOLLDAMPF VORAUS, KAISERWORTE ZUR JAHRHUNDERTWENDE . Das Besteck wog nicht viel. Die silbernen Griffe waren hohl. Hände von Kommerzienräten, Bankiers und Ministern hatten die Griffe gehalten, hatten sich mit Salm, Stör und Forelle bedient: fette Hände, ringgeschmückte Hände, verhängnisvolle Hände. »Majestät erwähnte in seiner Rede Afrika. Ich sage Kolonialpapiere -« - ›Toren! In Gold hätten sie's anlegen und vergraben sollen, Toren, in Gold wäre alles gerettet worden, ich stände nicht hier!‹ Das Leihamt leiht drei Pfennig für ein Gramm Silberbesteck. Emilia wurden achtzehn Mark und der Pfandschein aus dem Schalter gereicht. Die im stygischen Bassin Ertrunkenen beneideten sie. Noch gehörte Emilia zur Elite der Schatten, noch war sie die Prinzessin im Lumpenpelz.
Und weiter war sie fortgeschritten, Kalvariengang, vorangekommen im Lumpenprinzessinnenpelz und mit dem Warenpacken im komischen schottischen Reiseplaid: sie stand vor dem Gewölbe des Herrn Unverlacht,

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