Taubenkrieg
werden, und um die beiden wäre es wirklich schade … Boris schluckte schwer. Kaum anzunehmen, dass es Eindruck machen würde, aber es war die einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern. Langsam erhob er sich.
Wie ein buckliger Alter schob Boris sich zwischen Birken und Gebüsch, um zu der Stelle zu gelangen, von wo die Stimme gekommen war. Das Telefonat war anscheinend beendet, man hörte nichts mehr. Plötzlich, keine zehn Schritte von ihm entfernt, |278| erhob sich etwas aus dem Dickicht, ein Mann, breit, in Boris’ Größe, mit einem Tarnanzug bekleidet. Den hätte Boris womöglich prompt über den Haufen gerannt, so unsichtbar machte das Bundeswehrgrün ihn im kleinen Wäldchen. Boris gelang es, sich rasch hinter einem toten Baumstumpf zu ducken, knapp, aber rechtzeitig. Der Mann schaute sich um, entdeckte ihn jedoch nicht.
Der Mann … Erst dachte Boris, Mist, jetzt hab ich nicht nur was an den Ohren – dieses Störgeräusch nach dem Rumgeballere – sondern auch in meiner Optik hat sich einiges verschoben. Denn was er sah, war seltsam und unpassend und eine Halluzination. Doch dann, als sich auch nach dreimaligem Blinzeln nichts veränderte, musste er einsehen, dass er tatsächlich Leo Kellerbach vor sich stehen hatte. Der tote Rockeranwalt, der vor einer Woche bestialisch abgestochen wurde, dessen Leiche man trotz intensiver Suche nicht gefunden hatte, von dem Boris sicher glaubte, dass er zum Opfer seines verlorenen Zwillingsbruders geworden war, dieser Leo Kellerbach machte einen sehr gesunden und sehr lebendigen Eindruck.
In diesem Moment vibrierte das Handy in Boris’ Hosentasche. Er hatte es vorsichtshalber auf lautlos gestellt, doch in der Stille der Ostseenatur war bereits das Vibrieren eines Handys hörbar. Kellerbach wusste das Geräusch nicht gleich zu orten, schaute sich um, drehte sich in Boris’ Richtung.
Die Nummer der Staatsanwältin Maschler leuchtete auf dem Display.
Kellerbach hatte ihn entdeckt. Er machte große Schritte durchs Unterholz. Sein Gesicht war schmutzig, ein unregelmäßiger Bart bedeckte das Kinn in genau der Länge, die einem nach einer Woche wuchs. Und mit diesen Haaren im Gesicht sah er tatsächlich aus wie Tim Beisse, nur etwas muskulöser und breiter in der Statur. Dunkelblondes, halblanges Haar, und |279| wenn man genau darauf achtete, war sogar der Wirbel im Haaransatz zu erkennen, der auf dem dreißig Jahre alten Familienfoto schon so markant vom Kopf abgestanden hatte.
Boris nahm das Gespräch an. Jetzt war doch ohnehin eh alles egal. »Bellhorn?«
Sieglind Maschler sprach hektisch, aufgeregt, die Silben überschlugen sich wie Kunstturner: »Die DN A-Analyse – Sie glauben es nicht –, der Tipp war eine Sen-sa-ti-on!«
»Ja?«, sagte Boris nur. Kellerbach war fast bei ihm. Es war zwecklos, eine Flucht zu wagen.
»Wir müssen komplett umdenken. Alles sieht ganz anders aus. Die Laboranalyse hat ergeben, dass es zwei Männer waren, die sich am Tatort aufgehalten haben.«
»Sehen Sie, genau das hat meine Kollegin Tydmers von Anfang an gesagt.« Es war seltsam, in einer solchen Situation ein Triumphgefühl zu verspüren, aber es war da, ganz eindeutig: Wencke Tydmers hatte die ganze Zeit recht gehabt!
»Und es ist sogar nicht mehr hundertprozentig sicher davon auszugehen, dass wir es hier überhaupt mit einem Mord zu tun haben. Drei Liter Blut zu verlieren ist definitiv tödlich. Wenn hier aber zwei Zwillingsbrüder jeweils nur anderthalb Liter Blut …«
»Verstehe«, sagte Boris. »Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung, Frau Maschler.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Leo Kellerbach steht gerade leibhaftig vor mir!«
|280| Die Sechshundertsechsundsechzig
steht als Zahl für das absolut Böse
O nein, o nein, o nein! Das würde sie definitiv nicht überleben. Das war eine Nummer zu groß. Das waren die letzten Augenblicke, die ihr noch blieben, bis sie ins Gras, in den Asphalt oder den Motorradlenker biss.
Wencke musste nach vorn schauen, geradeaus. Den Rückspiegel ließ sie außer Acht, denn da erblickte sie Gauly in seinem sehr schnellen Auto, und dieser Gauly und dieses Auto wurden von Sekunde zu Sekunde größer. Die Schüsse, die er in regelmäßigen und verdammt kurzen Intervallen abfeuerte, machten sie mehr als nervös – sie war ohnehin nahezu panisch, seit die Schießerei auf dem Gelände begonnen hatte. Wann war sein Magazin endlich leer geschossen? Oder hatte er genügend Munition mitgebracht, um sie bis zum
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