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Taubenkrieg

Taubenkrieg

Titel: Taubenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Lüpkes
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genau an. Mit jeder Sekunde erkennt er sich mehr im Gesicht des anderen. Es ist nicht so, als würde man in einen Spiegel schauen. Eher, als begegne man sich selbst.
    »Ich habe lange überlegt, wie wir es anstellen können. Du weißt schon, Gauly, dieses Schwein, es ist nicht so einfach, ihn dranzukriegen.«
    Da sitzen sie endlich zusammen, und das Erste, worüber sie sprechen, ist der Wunsch nach Rache, der ihnen beiden gleichermaßen auf der Seele brennt. Es wird erst ein guter Anfang werden zwischen ihnen, wenn Gauly am Ende ist.
    Roland Gauly, Leos Pate, der Freund seines Vaters, der Verkäufer seines Schicksals. Das klingt melodramatisch, trifft aber die Sache im Kern.
    »Immerhin habe ich jetzt einen Namen für den, der uns das angetan hat«, sagt Tim. »Dass wir unserer Mutter weggenommen wurden, weiß ich ja schon länger, direkt nach der Wende habe ich meine Unterlagen studiert und mich gleich auf die Suche nach ihr gemacht.«
    »Und da hast du keinen Hinweis auf Gauly gefunden?«
    Tim schüttelt den Kopf. »Obwohl ich immer danach gesucht habe. Aber manchmal kommt es mir vor, als gäbe es da |287| irgendeine Absprache, welchen Teil der Vergangenheit man aufklären will und welchen nicht. Hast du denn Gauly jemals darauf angesprochen?«
    »Klar, am Anfang dachte ich ja noch, das sei alles ein unglaublicher Zufall. Doch mein hochverehrter Pate gab sich verschlossen wie eine eiserne Jungfrau. Als ich nach den Adoptionsverfahren fragte, hat er mir sogar ziemlich barsch zu verstehen gegeben, dass ich hier besser meine Finger rauslasse, in meinem eigenen Interesse und dem meiner Familie.«
    »Er ist ein Schwein«, stellt Tim fest, dann schaut er in Fahrtrichtung und zeigt auf das Clubhaus. »Was ist da drüben los?«
    »Die
Devil Doves
machen Party. Das ist nichts Besonderes, meine Brüder und ich feiern jeden Abend.« Leo hört auf zu rudern und holt ein Handy heraus. Es ist nicht seines. Er hat es irgendwo aufgetrieben, dann eine Prepaidkarte gekauft, die Rufnummer unkenntlich gemacht – sollte die Polizei also jemals forschen, von woher der Anruf gekommen ist, den er jetzt tätigte, wäre die Spur nicht zu ihm zurückzuverfolgen, dafür hat er gesorgt.
    Tim hört ihm staunend zu. »Warum hetzt du deinen Leuten die Bullen auf den Hals?«
    »Damit wir unsere Ruhe haben.«
    »Wofür brauchen wir Ruhe?«
    »Das erkläre ich dir, sobald wir da sind.« Wieder lässt er die Paddelblätter in den glatten See tauchen. Sie haben es nicht eilig. Wenn man über vierzig Jahre lang ein falschen Leben geführt hat, kommt es auf die paar Minuten nicht an.
    »Hast du eine Ahnung gehabt?«, fragt Tim. Sie haben miteinander telefoniert, gemailt, Briefe mit Fotos verschickt, sich kurz in Schwerin getroffen. Aber die wirklich wichtigen Themen haben sie sich für heute Nacht aufgehoben.
    »Es ist nicht so wie in Romanen oder Filmen, dass ich irgendwie immer gespürt habe, fehl am Platz zu sein oder |288| nicht dazuzugehören. Meine Eltern und ich sind zwar unterschiedlich wie Feuer und Wasser, trotzdem hab ich nie daran gezweifelt, ihr Sohn zu sein. Es gab Bilder von mir als kleines Baby im Arm meiner Mutter, sie hatten sogar dieses winzige hellblaue Armbändchen aufgehoben, das die Neugeborenen immer umgelegt bekommen, damit sie im Krankenhaus nicht verwechselt werden. Da stand doch dick und fett
Kellerbach
drauf.« Wenn er weiter so in die Riemen geht, werden sie eindeutig zu schnell, aber das Thema macht Leo so wütend, da muss er sich doch abreagieren. »Und wie war es bei dir?«
    Tim zieht die Beine nach oben, als sei ihm kalt. »Scheiße war es. Kinderheim, Jugendwerkhof, sogar ein bisschen Knast wegen Aufmüpfigkeit gegen den Staat. Der Ärger fing an, als ich die Jugendweihe abgelehnt hatte, seitdem hatten sie mich im Visier…«
    Ganz anders als bei mir, denkt Leo, schweigt aber lieber. Jetzt ist sein Bruder an der Reihe. »Ich bin dann nach 1989 rehabilitiert worden, gelte also nicht als vorbestraft. Das ist wichtig, falls du hier was Illegales anzetteln willst, denke ich. Meine Fingerabdrücke sind nicht mehr aktenkundig.«
    »Gut zu wissen   …«
    »Weißt du, was der härteste Moment in meinem Leben war? Als ich endlich den Namen und die Daten von unserer Mutter hatte und dann von einer ehemaligen Zellengenossin erfahren musste, dass Elka Beisse schon Anfang der Siebzigerjahre in Hoheneck an einer Lungenentzündung gestorben ist. Das Einzige, was sie zurückgelassen hat, ist ein unscharfes Foto von sich und ihren

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