Taubenkrieg
ich dich schon immer fragen wollte: Warum weinst du eigentlich bei dem Lied?«
Dann hatte er ihr alles erzählt. Lange und ausführlich. Es war ihr vorgekommen, als sei sie dabei gewesen.
»… try to see it once my way …«
|284| Nachts liegt der Pinnower See wie Quecksilber zwischen dem Schilf. Seine Oberfläche wirkt, als könne man zu Fuß das andere Ende erreichen. Leo hat oft um diese Uhrzeit hier gesessen und nichts getan, außer ein bisschen zu rauchen. Er weiß nicht, wie die Wasservögel heißen, die bei Dunkelheit ihre eigenen Mondschatten begrüßen. Die Tiere sind ihm genauso egal wie die Bäume und Gräser ringsherum. Aber alles zusammen ist die perfekte Welt. Seine Brüder finden das manchmal total seltsam, aber sie lassen ihn in Ruhe. Seine Brüder lassen ihn so sein, wie er ist. Die nehmen ihm nichts krumm. Der Steg am Bootsschuppen ist im Grunde sein wirkliches Zuhause.
Dort fühlt er sich geborgen. Das klingt komisch, wenn ein Kerl wie er, Anwalt und Rocker, von Geborgenheit spricht. Aber er sucht sie. Auch in Heides Armen. Da ist es auch gut.
Heute aber wartet er an der anderen Seite des Sees. Das Licht rund um das Clubhaus ist aus der Entfernung noch gut zu erkennen, beleuchtet auch den Bootsschuppen, den er gleich erreichen muss. Musik weht herüber. Laute und unruhige Musik, die Leo eigentlich mag, wenn er mit den Brüdern Bier trinkt oder an den Bikes rumschraubt. Aber heute ist sie ihm zu anstrengend.
Heute wartet er auf seinen wirklichen Bruder. Den wirklichen, den echten, leiblichen.
Auf das Wunder, mit dem er niemals gerechnet hat.
Erst recht nicht vor ein paar Wochen, als der Ärger losging. Aus heiterem Himmel.
Weil er Heide heiraten wollte, große Überraschung, Flug nach Las Vegas, das Jawort im legendären
Harley Club
und dann auf einer
FLHT Electra Glide
im Gespann die Westküste runter. Große Pläne, die schon am Anfang scheiterten wegen eines Papierstückes, das nicht aufzutreiben war. Die Geburtsurkunde reichte nicht, für eine Hochzeit in den USA brauchte |285| man eine Abstammungsurkunde, und die war nicht zu finden. Er hat Dampf gemacht, wie es seine Art ist, kein Sachbearbeiter auf dem Schweriner Standesamt, dem er nicht Schlamperei und Unvermögen vorgeworfen hat. Schließlich gab es einen Hinweis, dass das Schriftstück in Berlin zu finden sei, und weil er ohnehin in die Hauptstadt musste, hat er die Sache selbst in die Hand genommen. Damit ging der Ärger los.
Jetzt gerade weiß er kaum, ob er sich darüber freuen soll oder nicht. Hat die Erkenntnis, dass er als Kind adoptiert wurde, sein Leben besser oder schlechter gemacht? Er denkt nach, noch eine Zigarette lang, und kommt zu keinem Ergebnis.
Hinter ihm hört er Zweige knacken, ein punktförmiger Lichtkegel blitzt durch das Ufergras. Er ist aufgeregt wie ein kleiner Junge, als er sich umdreht und die Sekunden zählt, bis die Gestalt vor ihm auftaucht. Leo wirft die Zigarette weg, zischend ertrinkt die Glut im See, er steht auf mit weichen Knien.
»Hallo«, sagt er. »Ich bin’s …« Er kann den Satz nicht vollenden, weil er nicht weiß, wer er eigentlich ist. Leo Kellerbach? Oder meint er den Namen, der unter der Abstammungsurkunde gestanden hat? »Ich bin’s, Tommy.«
Tommy Beisse. Der kleine Junge rechts auf dem Schwarz-Weiß-Bild, welches Tim ihm in seinem ersten Brief mitgeschickt hat. Ein winziges, nacktes Köpfchen neben einem anderen winzigen, nackten Köpfchen. Dazwischen eine blasse Frau mit Ringen unter den Augen, aber glücklichem Lachen. Seine Mutter.
»Endlich«, sagt der Mann, der so schmal ist und so anders gekleidet, aber in dem Moment, als sie sich in die Arme fallen, sofort vertrauter wird als jemals ein Mensch zuvor.
Obwohl Leo gedacht hat, dass nach den letzten Wochen eigentlich nichts mehr aus seinen Augen tropfen würde, heult |286| er Rotz und Wasser. Beide stehen zwischen den Grasbüscheln, ein kleines Tier raschelt weiter oben, es gibt Gegröle im Clubhaus da hinten, ein Hubschrauber knattert Richtung Autobahn, und sie stehen immer noch da und weinen.
»Bist du seefest?«, fragt Leo schließlich und zieht an der Leine, die am Bug des Bootes befestigt ist.
Erst als Tim sich vorsichtig auf die wackelnden Planken und auf das schmale Sitzbrett geschoben hat, fragt er: »Was hast du eigentlich vor?«
Leo nimmt ein Ruder in die Hand und stößt sich vom Ufer los, dann setzt er sich in die Spitze des Bootes und beginnt zu paddeln. Dabei schaut er sich seinen Bruder
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