Taubenkrieg
Zwillingsbabys, von denen sie nie erfahren hat, dass sie noch am Leben sind.« Tim hält die Hand ins Wasser und zieht eine wellige Spur hinter sich her. »Das war mein schlimmster Augenblick. Und ich glaube, das jetzt hier ist der schönste …«
Leos Hals tut weh, weil da etwas festsitzt, Wut und Trauer und noch irgendein Gefühl, das er nicht benennen kann. Er |289| paddelt sich um Kopf und Kragen. Ein dicker Fisch weicht ihm aus.
»Hat diese Zellengenossin dir etwas über unsere Mutter erzählt?«
»Ja, die beiden waren befreundet, soweit das in einem überfüllten Frauenknast überhaupt möglich gewesen ist.«
»Wusste sie denn, wer unser Vater war?«
»Ein unschönes Thema«, seufzt Tim. »Unsere Mutter hat in irgendeinem wichtigen Amt gearbeitet und war so etwas wie eine Geheimnisträgerin. Ein Typ aus dem Westen, den sie in einem Urlaub am Plattensee kennengelernt hat, erzählte ihr was von großer Liebe und glänzender Zukunft in Westberlin. Das erste Ergebnis dieser Begegnung sind wir beide, das zweite war ihre Kündigung und Inhaftierung, als herauskam, dass unsere Mutter sich angeblich mit einem Westspion eingelassen hatte.«
»Ich kann es echt nicht fassen. Da denke ich jahrelang, dass in meinen Adern das Blut standfester Sozialisten fließt, dabei stamme ich von einer Staatsfeindin erster Güte ab.«
Tim lacht traurig. »Unsere Mutter war überhaupt kein politischer Mensch, denke ich. Die ist da reingerutscht, weil sie sich in den falschen Mann verliebt hat. Man wollte sie dann im Gegenzug zwingen, gezielt Kontakt zu westdeutschen Männern einzugehen, um diese auszuhorchen. Eine Hure des Staates sollte sie sein. Das wollte unsere Mutter auf keinen Fall, und so hat sie die erstbeste Gelegenheit für einen Fluchtversuch genutzt.«
»Ab da kenne ich die Geschichte«, wirft Leo ein. »Sie sollte über die Ostsee geschleust werden, was nicht gelungen ist. Die verhinderte Republikflüchtige Elka Beisse wird verhaftet und – obwohl man ihr die Schwangerschaft schon ansieht – hier in Schwerin tage- und nächtelang verhört. Mit von der Partie ist Roland Gauly, so steht es in den Akten. Und da hat er |290| wohl auf ihren Bauch gestarrt und sich überlegt, wie viel so ein kleines Baby einbringen wird, wenn er es seinem Freund und Kollegen Kellerbach anbietet, der doch schon jahrelang auf einen Stammhalter hofft.«
»Meinst du, deine Eltern haben ihm Geld dafür gezahlt?«
Darüber hat Leo sich in den letzten Tagen seinen Kopf zerbrochen, bis er schmerzte. »Ich denke, sie haben ihn eher in Naturalien bezahlt, wenn man das so ausdrücken will. Ein halbes Jahr nach meiner Adoption wurde Gauly nämlich befördert. In seiner neuen Position war er der allein Entscheidende, dessen Unterschrift es bedurfte, wenn einer Mutter das Kind entrissen und ein Adoptionsantrag genehmigt werden sollte. Bei meinem Besuch im Stasi-Archiv bin ich auf knapp zwanzig Schriftstücke dieser Art gestoßen. Meine Schwester Nikola war ein weiterer Fall unter vielen.«
»Du hast eine Schwester? Weiß sie schon, was Sache ist?«
»Nein, ich habe noch keinem Menschen davon erzählt. Nikola wird Unterlagen von mir bekommen, sobald ich das Gefühl habe, dass es an der Zeit ist.«
»Dann sind wir nicht die Einzigen, die Gauly um ihre Familie gebracht hat?« Es ist Tim anzusehen, dass er so weit noch gar nicht gedacht hat. Für ihn haben bis jetzt nur seine Mutter, sein Bruder und vielleicht noch der Vater gezählt. Dass es mehr von ihrer Sorte geben könnte, schockiert ihn offensichtlich. »Wir müssen das restlos aufdecken, Tommy! Das ist unsere Aufgabe, die anderen Betroffenen müssen …«
»Psst!« Leo legt den Finger an den Mund. Inzwischen sind sie schon sehr nah am anderen Ufer. Noch kann man keine Polizei vor dem Tor stehen sehen, dies bedeutet, dass ungefähr alle fünf Minuten einer seiner Brüder mit aufmerksamem Blick den See beobachtet. Doch ihre Ankunft muss unbedingt unerkannt bleiben, sonst funktionierte der Plan nicht.
»Das ist genau das Problem, Tim«, flüstert Leo. »Ich kenne |291| Gauly. Indirekt hat er mir ja schon gedroht, dass es mehr als unangenehm werden kann, wenn ich ihn wegen der Adoptionsgeschichte anschwärzte.«
»Und davon lässt du dich beeindrucken?«
»Ich weiß einfach, zu was er imstande wäre. Sowohl meine Adoptivfamilie als auch meine Rockerbrüder würden es knallhart zu spüren bekommen. Um beide täte es mir leid. Darüber hinaus könnte es mit den Teufelstauben dann auch noch
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