Taubenkrieg
er es unbedingt von ihr erwartete. Also stand sie hier im Niemandsland, mit einem Motorradgetriebe in der Hand, bereit, es auf die Straße zu werfen, um Gauly zu erschrecken, zu verletzen – oder zu töten. Zu allem bereit. Sie verschwendete besser keine Zeit dafür, sich über sich selbst zu wundern.
Der Blick der Motorradfahrerin traf den ihren. Sie konnte den Schrecken in den Augen der Frau erkennen, diese Panik, als sie verstand, was gleich geschehen würde. Für sie und ihren Beifahrer gab es definitiv keine Chance, egal, ob Heide das Cabrio treffen würde oder nicht.
Sie musste es tun. Für Leo, damit er frei sein konnte. Für sie und eine Zukunft irgendwo weit weg von hier. Darum musste sie … Sie hob die Arme über das Geländer … musste sie … das Teil war so schwer, nicht nur die Kilos, auch die Bedeutung, die darauf lastete … musste sie …
Nichts musste sie. Wenn Leo sie liebte, dann kam es nicht darauf an, ob sie ihm jetzt gehorchte oder nicht. Sie konnte einfach nicht mehr mitmachen in diesem zerstörerischen Spiel. Das würde er doch sicher verstehen. Das musste er.
Sie trat zurück und warf das Getriebe direkt vor ihre eigenen Füße. Sie sah Motorrad und Auto unter der Brücke verschwinden und atmete durch, bis plötzlich ein Krachen, ohrenbetäubendes Metallstöhnen und das Splittern von Glas die Sekunde zur Explosion brachten. Genau einige Meter unter ihr wurde es heiß von der Gewalt eines zerstörerischen Aufpralls, jemand musste ungebremst gegen den Pfeiler gefahren sein. Heide fehlte die Kraft, einfach davonzurennen. Sie wünschte, sie könnte denken, dieser Unfall ginge sie nichts an, aber so war es nun mal nicht. Sehen konnte sie nichts, nur erahnen, dass es unwahrscheinlich war, eine Kollision bei dem Tempo zu überleben.
Doch dann vernahm sie das Brummen eines Motors, wie |297| eine dicke Fliege am Fenster. Sie schaute über das Geländer der anderen Seite, sah etwas in langsamen Kurven weiterfahren, die Geschwindigkeit reduzieren, stehen bleiben. Die Motorradfahrerin stieg ab, hielt den Mann auf dem Sozius fest im Arm, beide starrten zur Brücke, als fände genau dort gerade die Apokalypse statt.
Wie gut, dann hatte es den Richtigen erwischt. Und zwar ganz ohne Heides Zutun. Gauly war aus eigenen Stücken gegen die Betonwand geknallt. Das war … Gerechtigkeit.
Heide schlenderte langsam zu ihrem Corsa. In vier Stunden ging der Flug. Das war zu schaffen. Das Gepäck lag schon im Kofferraum.
|298| Die Null
ist neutral, sie wird als Symbol für den leeren Raum genutzt
»Es war ein glatter Durchschuss. Der Knochen musste irgendwie geschraubt oder genagelt werden, drei Stunden haben die fröhlichen Handwerker geschuftet. Die nächsten Monate wird der Gips meinen Oberschenkel zieren, und die geplante
Harley -Trekkingtour
kann ich bis auf Weiteres knicken …« Axel lächelte und zog den Mund leicht schief.
»Du willst trotz allem noch mal auf ein Motorrad steigen?«
»Kommt drauf an, wohin ich fahre, Wencke. Mein Leben in der norddeutschen Tiefebene gestaltet sich schließlich schon aufregend genug.« Er strich ihr kurz über den Handrücken. »Dank deiner Hilfe …«
Wie Axel da so in diesem hellgelb bezogenen Bett lag, das Hirn noch ganz matschig von der Narkose und bekleidet mit einem türkisblauen O P-Hängerchen , sah er aus wie der Lieblingspatient der Schwesternschülerinnen in einer öffentlichrechtlichen Arztserie.
Das LKA Meckpomm hatte sogar schon Blumen schicken lassen, auf der dazugehörigen Karte stand etwas von »Mut«, »Respekt« und »zu Dank verpflichtet«. So richtig gefreut hatte sich Axel über den floralen Gruß aber nicht. Gleichzeitig war nämlich zu Händen von Wencke und Boris ein übler Beschwerdebrief eingegangen, in dem ganz andere Worte gestanden hatten.
|299| Es war fast zu verstehen, schließlich sahen die Schweriner Polizei- und Justizbehörden umfangreichen internen Ermittlungen wegen Korruption entgegen. Und da der Hauptverantwortliche Gauly sich sang- und klanglos aus der Affäre gezogen und allenfalls noch vor dem Jüngsten Gericht zu erscheinen hatte, würde es mühselig werden, herauszufinden, wer in den Skandal verwickelt war und wer nicht.
Das war aber nicht mehr Wenckes Problem. Zum Glück nicht.
»Weißt du, was ich noch viel schlimmer finde als meine verpatzte Motorradtour?«, fragte Axel und schickte die Antwort gleich hinterher. »Ich kann nicht mit dir an der Ostseeküste spazieren gehen.«
Wencke
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