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Taubenkrieg

Taubenkrieg

Titel: Taubenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Lüpkes
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Zirkuspony zu besteigen war. Das Problem, wohin mit den Armen, war schnell geklärt: Er nahm ihre Hände und legte sie sich selbst um die Taille. Das war alles sehr nah, sehr eng. So dicht rückte Wencke einem Mann, den sie nicht so richtig einzuschätzen wusste, selten auf die Pelle.
    Der Motor wurde angeworfen, und das dunkle Brummen ließ Wenckes Körper vibrieren, nicht zu stark, eher auf sanfte, angenehme Weise, bestimmt gab es in irgendwelchen Wellnessläden sauteure Massagematten, die ein ähnliches Gefühl erzeugten. Sie schob sich den Helm über den Kopf, stellte die Füße nach Anweisung auf zwei kleine Metallstreben, und schon waren sie auf der Straße. Es war außergewöhnlich, auf dem Bike fühlte man sich den physikalischen Kräften unmittelbar ausgeliefert. Wenn
Patch
beschleunigte, rückte Wencke zwangsläufig von ihm ab, bremste er, wurde sie gegen seinen Rücken gepresst. In den Kurven versuchte sie, sich seinen Bewegungen anzupassen. Erst kostete es Überwindung, das Körpergewicht so nah an den Asphalt zu bringen, sie war nicht sicher, ob die Räder nicht abrutschten und sie unter einem Haufen Technik begraben werden würde. Doch als sie sich dran gewöhnt hatte, fand sie es schön. Der Fahrtwind, der am Helm vorbeifegte, war lauter als die Maschine. Alles wurde zu einem Ganzen, der Lärm der Geschwindigkeit, die Kraft des Motors und die Härte der Straße, das Gefühl von Leichtigkeit und, ja, Freiheit.
    Die vierspurige Umgehungsstraße reduzierte sich schon bald, nachdem sie Schwerin hinter sich gelassen hatten, zu einer schmalen, schnurgeraden Landstraße, die nur ab und zu in die Kurve ging, dann aber richtig. Wencke begann, sich auf genau diese Momente zu freuen. Jetzt verstand sie, was Kalle |154| und die anderen gestern zu erklären versucht hatten, als sie sagten, man müsse sich bedingungslos darauf einlassen und eins werden mit dem Motorrad. Angst hatte sie definitiv keine, obwohl sie über
Patchs
Schulter hinweg ablesen konnte, dass sie die 100   km/h um einiges überschritten.
    »Wir lenken eigentlich gar nicht«, erklärte er, als sie mit nur wenig gedrosselter Geschwindigkeit einen kleinen Ort durchfuhren. »Sobald du ein bestimmtes Tempo erreicht hast, weiß dein Bike von allein, wohin du willst. Es versteht die kleinste Regung, reagiert mit jeder noch so winzigen Gewichtsverlagerung und dem minimalen Druck auf die Handgriffe. Probier mal!« Er zog Wenckes Hand ganz nach vorn und führte sie zum rechten Lenker. Sie passierten gerade das durchgestrichene Ortsschild. »So, und jetzt Gas geben, Christine! Los, trau dich!«
    Es waren nur wenige Millimeter am Griff zu drehen, und der Motor schwoll vom Schnurren an zum Brüllen. Innerhalb von Sekunden wurde aus Langsam Schnell, aus Leise Laut, aus Ganz nett ein Sensationell. Ja, es machte Spaß! Mit der Bremse spielen, das Gas zähmen, die Kupplung beherrschen –
Patch
erklärte ihr alles genau, und bald hatte Wencke das Gefühl, diese vielen PS seien nur zwischen die beiden Räder gebaut worden, um ihren Befehlen zu gehorchen.
    Als sie plötzlich am Ende der Welt standen – am Ufer der Ostsee   –, war Wencke fast enttäuscht. Auf diese Art hätte sie noch bis zum Nordkap Skandinaviens hochfahren können, auch wenn ihre Arme inzwischen lahm waren und der Rücken durch die nach vorn gebeugte Haltung an Stellen schmerzte, die ihr bislang unbekannt gewesen waren.
    Während der rasanten Fahrt war die Landschaft nur an ihr vorbeigerauscht, sie hatte gerade so viel mitbekommen, als wären sie durch einen Teilchenbeschleuniger geflogen. Doch nun ließen sie sich Zeit, stiegen beide ab, klappten die Schutzfenster |155| der Helme nach oben und holten Luft, die ganz anders nach Meer roch als die Nordsee. Obwohl Sommerferien waren, hatte
Patch
einen Platz gefunden, an dem sich um diese Uhrzeit – es musste gerade kurz vor drei sein – kein Mensch aufhielt, abgesehen von zwei Joggern, die aber in diesem Moment keuchend an ihnen vorbeirannten und dann verschwunden waren. Die knorrigen Bäume standen fast schon im Wasser, und irgendein meditativer Strandgänger hatte sich die Mühe gemacht, verschieden große Steine aufeinanderzutürmen. Ein paar verfallene Gebäude, die in der Nähe standen, waren von Unkraut überwuchert, zwischen den Bodenplatten kämpften sich diverse Grünpflanzen ans Tageslicht.
    »Und? Wie war’s?«
    »Blöde Frage, das hast du doch sicher gemerkt   …«
    Der Motor lief noch immer, und tatsächlich fragte
Patch
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