Taubenkrieg
Klamotten vom Boden. Dann stellte er sich vor das Fenster, das durch eine verstaubte Lamellenjalousie verdunkelt war und zur Straße rausging. Noch war kein Einsatzwagen in der Nähe. Hoffentlich war seine SMS in die richtigen Hände gelangt, und irgendjemand startete eine möglichst rasche Aktion. So lange wollte er die Situation hier so normal wie möglich gestalten, also zog er sich in aller Seelenruhe an, ließ Tamara in Frieden, guckte noch nicht einmal in ihre Richtung, als er fragte: »Und dein Freund ist der Leo, oder nicht? Leo Kellerbach.«
»Nein«, hörte er die dünne Stimme. »Den ich kenne, der war sehr lange nicht hier.«
Mist, der erste Versuch war kein Treffer gewesen. »Nicht? Ach so, dann bist du die Liebste von Thorsten Schwarz – also, die meisten nennen ihn ja
Patch Blacky
.« Vorsichtig drehte er sich zu ihr um. Misstrauen stand ihr schnörkellos ins Gesicht geschrieben.
»
Patch
? Niemals. Er ist Schwein! Und wenn du fragst, ob er heißt
Mighty Mäxx
, ich dich mache fertig.« Sie hatte im Sitzen bereits ihren BH unter die flache Brust geschnallt, jetzt zog sie |179| die Träger hoch, und ihr fast knabenhaftes Dekolleté wurde leicht angehoben. Dann suchte sie nach T-Shirt und Rock.
In diesem Moment war von unten ein Krachen und Rufen zu hören. »Achtung, Polizei!«, riefen mehrere Stimmen gleichzeitig, die Musik verstummte, einige Mädchen kreischten. »Was ist hier los?«, polterte die raue Stimme der Barfrau durch das Chaos.
Boris schob sich noch das Poloshirt in die Hose, dann rannte er aus dem Zimmer und die Treppe herunter. Drei Prostituierte klammerten sich wie verängstigte Äffchen aneinander, die wenigen Freier blickten verlegen zu Boden, und wenn es dort einen Ausgang direkt in die Hölle gegeben hätte, sie wären herabgestiegen, jede Wette. Mit vier Uniformierten waren sie angerückt. Die anwesenden Kollegen waren ihm unbekannt bis auf Steffen Jolters, der ihm zunickte.
»Da hinten sind sie«, wies Boris ihnen den Weg. »Im linken Zimmer. Passt auf, sie sind bewaffnet!«
Zwei stürmten los, Jolters und eine sportliche Frau gaben Deckung. »Es kommt gleich weitere Verstärkung aus Hagenow«, versicherte der LK A-Kollege hektisch. »Die Kollegen von der Kripo haben parallel noch einen Einsatz in der Schelfstadt. Nikola Kellerbach wurde in der Kanzlei niedergeschossen.«
»Haben Sie etwas von einer Christine Frey gehört?«
»Wie?«
»Oder Wencke Tydmers?«
»Keine Ahnung.«
Boris schluckte. Er folgte Jolters mit etwas Abstand, schließlich war er weder bewaffnet noch mit schusssicherer Weste ausstaffiert. In seiner Ausbildung zum Fallanalytiker hatte er nur rudimentäre Kenntnisse der Polizeiarbeit im aktiven Einsatz erworben, für eine Situation wie diese war das viel zu wenig. Er drückte sich eng an der Flurwand entlang, denn er |180| hatte keine Lust, ein Messer oder eine Kugel von hinten in den Rücken zu bekommen. Hier brannte die Luft.
Die letzte Tür war verschlossen, die beiden Polizisten an vorderster Front traten sie beherzt auf und sprangen im selben Moment mit gezogener Waffe in den Raum. Boris wagte einen Blick durch den schmalen Spalt, den Jolters und seine Kollegin zwischen ihren Schultern ließen. Was er zu Gesicht bekam, reichte ihm völlig: Kalle lag nackt auf einem rot verschmierten Schreibtisch, sein ausgemergelter Körper war schlaff, er war sicher nicht mehr bei Bewusstsein. Neben dem Tisch standen mehrere Flaschen hochprozentigen Alkohols, die mochten der Grund für seine Ohnmacht sein – oder die Schmerzen, die er allem Anschein nach auszuhalten hatte. Trotz seines narkoseartigen Zustandes hielten seine Brüder ihn an Armen und Beinen fest, und ein weiterer Rocker war dabei, ihm mit einer Tätowiernadel die Stirn zu zerstechen. Das Instrument gab ein fieses, hohes Summen von sich. Als Kalles Kopf zur Seite fiel, erkannte Boris die vier blutenden Buchstaben auf der Haut: ACAB –
All Cops Are Bastards
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|181| Die Fünfzehn
ist die Zahl der Himmelsgöttin Ischtar, die auch die Göttin des Krieges ist
»Sie sind vollkommen übergeschnappt, Frau Tydmers! Mein Okay werden Sie auf gar keinen Fall bekommen! Diese Aktion gestern kostet mich wahrscheinlich jetzt schon Kopf und Kragen!«
Wencke konnte die Ausrufezeichen hinter den Sätzen der Kosian senkrecht im Hotelzimmer stehen sehen. Es waren nicht die ersten Vorwürfe an diesem Morgen, und es würden nicht die letzten bleiben. Seit einer halben Stunde schmetterte Wenckes Vorgesetzte ihren
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