Tauchstation
kommt der An reiz, jemanden zu missbrauchen?«
Perry kratzte sich am Ohr. Eigentlich hatte er momentan anderes im Sinn, als tiefgründige soziologische Gespräche zu führen, wozu er sich im Übrigen auch gar nicht im Stande fühlte. Doch er hatte das Gefühl, irgendetwas auf Lunas Frage erwidern zu müssen. Sie sah ihn gespannt an. »Also, um ehrlich zu sein, habe ich mir darüber noch nicht allzu viele Gedanken gemacht. Aber fest steht, dass es in unserer Gesellschaft eine Menge Unzufriedenheit gibt. Die Leute haben hohe Erwartungen und meinen, dass ihnen bestimm te Dinge zustehen. Es gibt nur wenige, die wirklich zufrie den sind.«
»Das verstehe ich nicht«, staunte Luna.
»Ich nenne dir ein Beispiel«, bot Perry an. »Stell dir vor, jemand hat sich gerade einen Ford Explorer gekauft. Kurz darauf sieht er eine Anzeige, in der ein Lincoln Navigator angeboten wird. Plötzlich findet er seinen Explorer uninter essant.«
»Ich weiß nicht, was das sein soll, wovon du gerade ge sprochen hast«, gestand Luna.
»Es ist einfach nur materieller Kram«, erklärte Perry. »Aber wir sind durch die ewige Berieselung mit Werbung so konditioniert, dass wir überzeugt sind, nie das Richtige zu haben und ständig etwas Neues zu brauchen.«
»Ich weiß nicht recht, wie ich mir so ein Verlangen vorstellen soll«, entgegnete Luna. »Bei uns in Interterra gibt es so etwas nicht.«
»Es ist schwer zu beschreiben«, grübelte Perry. »Auf je den Fall gibt es eine Menge Unzufriedenheit, und in armen Familien, die über weniger materielle Güter verfügen als an dere, ist sie am größten. Innerhalb der Familien reagieren sich oft sogar einzelne Familienmitglieder aneinander ab.«
»Klingt traurig«, stellte Luna fest. »Und beängstigend.«
»In gewisser Weise ja«, stimmte Perry ihr zu. »Aber wir sind so programmiert, dass wir nicht ständig darüber nachdenken, denn auf diesem Schema beruht unsere gesamte Wirtschaft.«
»Aber wie kann eine Gesellschaft Gewalt unterstützen?«, fragte Luna. »Für mich klingt das ziemlich befremdlich. Für uns ist es ein Schock, mit Gewalt konfrontiert zu werden. In Interterra gibt es keine Gewalt.«
»Gar keine?«, hakte Perry nach.
»Nein«, versicherte Luna. »Niemals. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Mensch einen anderen schlägt. Wenn ich es mir nur vorstelle, bekomme ich weiche Knie.«
»Dann setz dich doch zu mir«, schlug Perry vor und klopfte neben sich auf das Bett. Im selben Moment meldete sich seine Unsicherheit wieder. Er fühlte sich durchschaut. Doch Luna folgte seiner Bitte und setzte sich zu ihm.
»Dir ist doch nicht schwindelig, oder?«, fragte Perry, eif rig bemüht, Konversation zu betreiben, da er sie nun schon so nah bei sich hatte. »Nicht dass du mir in Ohnmacht fällst.«
»Nein, mit mir ist alles in Ordnung.«
Er sah ihr tief in die hellblauen Augen. Für ein paar Sekunden brachte er kein Wort heraus. Als er schließlich die Sprache wiederfand, sagte er: »Du bist noch sehr jung.«
»Jung? Was meinst du damit?«
»Nun. ..«, stammelte er, nach Worten ringend. Er war sich selber nicht sicher, ob er ihre Reaktion auf Richards Be nehmen meinte oder seine eigene Reaktion auf sie. »Junge Menschen haben nun mal noch nicht so viele Erfahrungen gesammelt wie ältere. Vielleicht bist du noch nie mit Gewalt in Berührung gekommen, weil du so jung bist.«
»Bei uns gibt es keine Gewalt, Perry«, wiederholte Luna. »Und zwar deshalb nicht, weil wir uns dagegen entschieden haben. Außerdem bin ich nicht so jung, wie du vermutlich denkst. Was meinst du, wie alt ich bin?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Perry. »Ungefähr zwanzig.«
»Jetzt wirkst du aufgewühlt.«
»Das bin ich wohl auch ein bisschen«, gestand Perry. »Immerhin könntest du meine Tochter sein.«
Luna lächelte. »Ich kann dich beruhigen: Ich bin über zwanzig. Fühlst du dich jetzt wohler?«
»Ein wenig.« Perry atmete tief durch. »Ich weiß nicht, warum ich so nervös bin. Es ist alles so schön hier, und trotzdem fühle ich mich innerlich irgendwie angespannt.«
»Das ist verständlich«, sagte Lima. Sie lächelte jetzt wie der und streckte ihm ihre Handflächen entgegen.
Perry erwiderte die Geste und drückte seine Hände unsi cher gegen ihre. »Was hat das eigentlich zu bedeuten?«
»Es ist eine Geste, durch die wir anderen unsere Zunei gung und Achtung zeigen. Magst du es nicht?«
»Ehrlich gesagt, bin ich mehr fürs Küssen, wenn es dar um geht, jemandem seine Zuneigung zu zeigen«,
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