Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
Sonnenstrahlen, die den Horizont trafen, ließen sie eine große Stadt entdecken. Voller Ungewißheit wandte sie sich nach dieser Seite. Wie groß aber war ihr Erstaunen, als sie deren Einwohner ihr entgegenkommen sah. »Unser Sultan ist diese Nacht gestorben«, sprachen sie zu ihr, »und hat uns keinen Thronerben zurückgelassen; dieweil er aber einen Bürgerkrieg fürchtete, hat er in seinem Nachlasse befohlen, den als Nachfolger einzusetzen, der sich als Erster beim Öffnen der Stadttore einfände.« Ghülnas nahm auf einmal mit königlicher und leutseliger Miene die Huldigungen ihrer neuen Untertanen, die ihr wahres Geschlecht durchaus nicht ahnten, entgegen. Sie durchritt die Straßen unter den Zurufen des Volks und nahm Besitz von dem Palaste, der gewöhnlichen Wohnstätte der Beherrscher dieser Gegend.
Sobald sie auf dem Throne saß, widmete sie sich ganz eingehend der Herrschaft des Staates. Sie wählte unbestechliche und kluge Wesire und trug ganz besonders Sorge, daß jedermann sein Recht bekam. Ihre Untertanen aber bewunderten ihre Klugheit und segneten das Schicksal, das ihnen einen Sultan gegeben hatte, der sich mehr mit ihrem als mit seinem Wohle abgab.
Die schöne Ghülnas regierte schon eine Weile, als sie vor den Toren der Stadt einen prächtigen Springbrunnen errichten ließ. Als dieses Denkmal aufgeführt war, befahl sie, ihr Bildnis herzustellen; doch ohne dem Maler den Grund anzugeben, der sie dazu bewegen konnte, verlangte sie, in der Tracht einer Königin dargestellt zu werden. Das Bild wurde hoch über dem Brunnen aufgehängt; Späher, die sie in die Nähe stellte, hatten den Befehl, vor sie alle zu führen, die beim Betrachten des Bildes Seufzer ausstießen oder irgendein Zeichen von Schmerz kundgaben. Indessen war der Wasserträger untröstlich über den Verlust seiner schönen Sklavin; er durcheilte alle Städte, in der Hoffnung, ihre Spur zu entdecken, und kam auch vor diesen Springbrunnen; kaum hatte er die Züge des geliebten Wesens, die ihm immer vor Augen gestanden hatten, entdeckt, als er einen tiefen Seufzer ausstieß. Die Häscher faßten ihn alsobald und führten ihn vor Ghülnas, die er unter ihrer Verkleidung nicht wiedererkannte. Sie befahl ihm in aufgebrachtem Tone, ihr den Grund zu sagen, der ihn gezwungen hatte, angesichts des am Springbrunnen befestigten Bildes Tränen zu vergießen. Er erzählte ihr unter Zittern und Zagen sein Unglück; Ghülnas aber ließ ihn festsetzen. Der Zufall führte drei Tage später die drei Fischerbrüder nach demselben Brunnen; sie erkannten in dem Bilde, das seinen Schmuck ausmachte, die wieder, die sie aus dem Meere gerettet hatten; ihre schlecht verlöschte Glut entzündete sich angesichts dieses Bildes aufs neue, und sie konnten sich eines Seufzers nicht erwehren. Sie wurden vor Ghülnas geführt, die sie, nachdem sie ihnen dieselbe Frage wie dem Wasserträger vorgelegt hatte, ebenso ins Gefängnis führen ließ. Der Vornehme und der Jude sahen auch den Springbrunnen, und nachdem sie dieselbe Empfindung kundgetan hatten, ereilte sie dasselbe Schicksal.
Als alle vereint waren, ließ die Wesirstochter sie vor sich erscheinen. »Wenn das Wesen, das der Gegenstand eurer Sehnsucht ist,« sprach sie zu ihnen mit bewegter Stimme, »hier vor euren Augen erschiene, würdet ihr es dann wiedererkennen?« Kaum hatte sie solche Worte ausgesprochen, als sie ihren Sultansmantel fallen und unter ihm die Gewänder ihres wahren Geschlechtes sehen ließ. Alle sechs fielen vor ihr auf die Knie und baten um Gnade ob dieses Übermaßes, zu dem sie eine allzu hitzige Liebe verleitet hätte. Die Wesirstochter hieß sie in Gnaden aufstehen; dann nahm sie den Wasserträger bei der Hand, ließ ihn auf dem Throne niedersitzen und mit den Sultansgewändern bekleiden. Darauf versammelte sie die Großen des Staates, erzählte ihnen ihre Geschichte und bat sie, ihren einstigen Herrn als Sultan anzuerkennen; sie heiratete ihn wenige Tage später, und die Hochzeit wurde mit wahrhaft königlicher Pracht gefeiert. Der Jude aber, die drei Fischerbrüder und der Vornehme wurden in ihr Land entlassen, reich mit Schätzen versehen, die, so beträchtlich sie auch waren, sie doch nicht hindern konnten, auf das Los des Wasserträgers neidisch zu sein.
Die Geschichte von den drei Spitzbuben
Ein Bauer brachte eine Ziege nach Bagdad; er saß auf seinem Esel, die Ziege folgte ihm, ein Glöckchen am Halse tragend. Drei Bösewichter sahen diese kleine Karawane vorüberziehen und
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