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Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen

Titel: Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anonymer Verfasser
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Bitte nicht gewähren zu müssen; denn die Eigenliebe, die man für ein geliebtes Wesen fühlt, ist unstreitig stärker als die, die man für sich selbst hegt; alle Vorstellungen aber waren vergeblich. Die Weisen – zwölf an der Zahl – versammelten sich, und bei dem Empfange, welchen ihnen der König gewährte, saß er mit Staatsgewändern angetan auf dem erhöhten Throne; Damake saß viel tiefer und ihm gegenüber auf Polstern und war in höchster Einfachheit gekleidet und gekämmt, strahlte aber in allen Reizen ihrer Jugend und allen Geschenken der Natur. Zwölf Weise nun umgaben sie, die ihr Alter und ihre langen Bärte verehrungswürdig machten, und stützten sich auf einen großen Tisch, um den sie mit ihr saßen. Die Weisen wußten nicht, zu welchem Zwecke Nurdschehan sie versammelt hatte, und waren sehr erstaunt, als er ihnen Damakes Vorhaben eröffnete; und sie betrachteten die Gegnerin, die man ihnen gestellt hatte, und gedachten nicht zu sprechen, da sie glaubten, der König wolle sie ohne Grund verspotten. Nurdschehan aber sprach zu ihnen: ›Ich fühle, was ihr denkt; doch ich habe mein königliches Wort gegeben, und seine Einlösung steht bei euch. Richtet ohne Schonung die schwersten Fragen an diese Schöne, die sich verpflichtet, die Schwierigkeiten zu überwinden, so eure große Klugheit vor ihr aufzutürmen vermag.‹ Nunmehr nahm einer der Weisen das Wort, indem er sprach:
    ›Wer ist der, dessen Brust schmal ist und der gleichwohl zum Vergnügen der Welt dient; dessen Haupt mit Feuer, dessen Bauch mit Wasser angefüllt ist und über dessen Rücken die Luft streicht?‹
    Damake antwortete, ohne zu zaudern: ›Es ist das Bad!‹ Der Weise war ebenso verwirrt wie Nurdschehan freudig bewegt.
    Der zweite Weise aber fragte sie: ›Welches Ding ist das, was die Farbe dessen annimmt, der es betrachtet, ohne das der Mensch nicht leben kann und das weder Körper noch Farbe hat?‹
    ›Das Wasser ist es‹, antwortete Damake dawider.
    Darauf sprach der dritte Weise zu ihr: ›Kannst du, o Wunder der Weisheit und Schönheit, mir sagen, welches Ding das ist, was weder Tor noch Grund hat und innen gelb und weiß ist?‹
    ›Das ist das Ei‹, antwortete die schöne Sonne der Glückseligkeit.
    Nachdem der vierte Weise etwas nachgedacht hatte, in der Hoffnung, seine Mitbrüder überbieten zu können, denn die Weisen von Mogolistan haben von jeher sehr viel Eigenliebe, sprach er zu ihr: ›Es gibt im Garten einen Baum, dieser Baum hat zwölf Zweige, über jedem Zweige stehen dreißig Blätter und unter jedem Blatte fünf Früchte; drei von ihnen sind im Schatten, zwei in der Sonne: wie heißt dieser Baum? Wo befindet er sich?‹
    ›Dieser Baum‹, erwiderte Damake, ›stellt das Jahr dar; die zwölf Zweige sind die Monate, die dreißig Blätter die Tage, die fünf Früchte jedoch die fünf Gebetzeiten, deren zwei am Tage, drei des Nachts sind!‹
    Der Weise stand verwirrt da, und die Hofleute, deren Meinung oft ein Nichts umstimmt, begannen sich innerlich von dem zu überzeugen, was sie anfangs zu bewundern geheuchelt hatten.
    Die andern Weisen aber, die noch nicht gesprochen hatten, wollten sich darauf von neuem entschuldigen und ihr Schweigen zugunsten des Lobes gelten lassen, das sie dem scharfen Verstände derer zollten, welche die beschämt hatte, die ihnen vorausgegangen waren. Auf Damakes Bitten jedoch befahl ihnen Nurdschehan, die Prüfung fortzusetzen. Einer von ihnen fragte, welches Ding schwerer wäre als ein Gebirge, ein anderer, was tiefer schnitte als ein Säbel; und der dritte, was schneller flöge denn ein Pfeil. Damake antwortete mit immer gleicher Geistesgegenwart: das erste sei die Zunge eines Menschen, welcher klagt; das zweite: die Schmähsucht; und das dritte: der Blick. Es waren nun noch vier Weise da, die ihre schweren Fragen noch nicht gestellt hatten. Nurdschehan fürchtete, daß am Ende Damakes Geist versiegen und sie den Euhm so vieler schöner Antworten verlieren könnte. Indessen schien dieser schöne Mond der Welt weder ermüdet noch auf das stolz zu sein, das der Eitelkeit der größten Zahl der Menschen genuggetan hätte. Aber die Eigenliebe ist den Wünschen dessen, so man liebt, untertan. Nurdschehan, den die vorhergehenden Erfolge noch keineswegs sicher machten, war voller Aufregung und Unruhe und forderte sie durch ein Nicken mit dem Kopfe, dem sie nicht zu widerstehen wagten, zum Weitersprechen auf.
    Der erste fragte sie, was für ein Tier das wäre, das die Welt flöhe

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