Tausend Worte der Liebe
Büro.
Allein das Telefongespräch mit Alan Roget gab Mitch ein leichtes Gruseln, so als ob ein riesiges Spinnennetz sich über ihn gelegt hätte. Stirnrunzelnd machte er sich Notizen, während der Mörder ihm aus seiner Kindheit berichtete, und gab sie in seinen Computer ein.
Die Nacht mit Shay war traumhaft gewesen und auch der Morgen danach. Das Leben konnte verdammt ironisch sein: Liebe und Frühstück mit einer schönen Frau, und kurz darauf Konfrontation mit der personifizierten Schlechtigkeit. Wie die meisten Psychopathen, zeigte Roget überhaupt keine Reue, wenigstens schien es so. Er war der Meinung, dass Gesetz und Moral nur für andere Gültigkeit hätten, keineswegs aber für ihn.
Als Mitch auflegte, war er bedrückt. Er wählte die Nummer seiner Exfrau Reba in Kalifornien und fragte nach Kelly.
»Du hast Glück, mein Lieber«, sagte Reba freundlich, »sie ist gerade vorzeitig aus der Schule heimgekommen.«
Mitch horchte auf: »Ist sie krank?«
»Nichts Ernstes, eine Erkältung. Wie geht es dir, Mitch?«
Er fühlte sich sofort besser. Reba war eine bemerkenswerte Frau. In ihrer zweiten Ehe war sie glücklich, und dieses Glück machte sie zu einer warmen, fröhlichen Frau. »Ich hab’ mich verliebt«, gestand er, ohne es eigentlich zu wollen.
»Oh, Mitch, das ist wunderbar!« Ein wenig Besorgnis klang bei diesem Ausruf durch. »Das ist doch wunderbar, oder? Vielleicht wunderbar genug, um dich aus dem Dschungel und den Zentren von politischen Unruhen herauszuhalten.«
»Kein Dschungel mehr, Reba«, versicherte er ernst. Sein Leben hatte sich geändert, denn während der gemeinsamen Ehe hatte er einen solchen Verzicht immer strikt abgelehnt. Er hoffte, sie würde ihm das nicht verübeln.
Die Sorge war unbegründet. Er hätte es wissen sollen, »Es wurde auch Zeit!«, rief sie lachend. »Hier kommt Kelly.«
Als die helle Kinderstimme seiner Tochter über den Draht erklang, vergaß Mitch Roget und seine widerwärtige Welt. Doch nachdem das Gespräch mit Kelly beendet war, erschien ihm das neue Haus noch größer und sogar noch leerer.
Er stürzte sich energisch in seine Arbeit, konzentrierte sich auf Rosamond Dallas und ihr farbenfrohes Leben.
Der Ärger auf Rosamond war verflogen, als Shay sie am Nachmittag besuchte. Auch Mütter sind normale Frauen, dachte sie seufzend, mit menschlichen Gefühlen und Schwächen.
Shay küsste Rosamonds Stirn. »Wie könnte ich dich hassen?«, flüsterte sie.
Rosamond hatte ihr Lieblingskissen im Arm. Shay fand, dass sie tiefer und tiefer in ihrer Abkapselung versank und dabei täglich dünner und zarter wurde.
Shay war müde. Die Nacht mit Mitch hatte viel Liebe gebracht und wenig Schlaf. Bei Reese Motors verlief der Tag dann hektisch, wie alle anderen. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und sah Rosamond an. »Morgen treffe ich meine Großmutter.«
Natürlich hatte Shay keinerlei Reaktion auf diese Ankündigung hin erwartet. Sie wusste ja nicht einmal, ob Rosamond zuhörte. Aber sie hob den Kopf, ihre berühmt-schönen Augen weiteten sich.
»Mutter!«, rief Shay ungläubig.
Doch sofort war der wache Moment wieder vorbei. Rosamond sank in sich zusammen und presste ihr Kissen fester an die Brust.
Auf dem Nachhauseweg hielt Shay an einer Buchhandlung an. Ivy hatte vier Titel aufgeschrieben von Büchern, deren Autor mit Zebuion angegeben war. Kein Vorname, kein Foto von Mitch auf der Rückseite des Einbandes, einfach: Zebuion.
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Shay die Bände, als sie vor ihr auf dem Ladentisch lagen. Mitch lebte gefährlich. Würden ihn die Menschen, deren zweifelhaftes Tun er der Öffentlichkeit preisgab, nicht mit ihrem Hass verfolgen? Vielleicht mit tödlichem Hass? Sie fröstelte, bezahlte und klemmte das Paket unter den Arm.
Daheim konnte sie es kaum erwarten, mit dem Lesen zu beginnen. Sie machte sich ein Sandwich, duschte schnell und kuschelte sich dann in die Sofaecke. Das erste Buch beschäftigte sich mit einem berühmten Kriegsverbrecher. Der Mann hatte sich gut getarnt, war wahrscheinlich nur schwer zu erkennen gewesen. In Brasilien wurde er von Mitch aufgestöbert und der gerechten Bestrafung zugeführt.
Das war aufregend geschrieben, spannend und schonungslos. Shay las, bis ihr die Augen zufielen. Am anderen Morgen wachte sie auf, noch immer auf der Couch liegend, das Buch unter sich vergraben. Sie streckte die schmerzenden Glieder und fuhr sich durchs Haar.
Heute würde sie Alice Bretton, ihrer Großmutter, das erste
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