Taxi
schon irgendetwas gelesen außer diesem Schimpansen-Kram?«
Alles, was ich kannte, war das Gesamtwerk von Jack London. Und jedes Buch über Menschenaffen, das auf dem deutschen Markt zu bekommen war. Und die Bücher, die wir in der Schule hatten lesen müssen.
»Das, was sie dir im Deutschunterricht gegeben haben, kannst du vergessen. Das ist alles Mist«, erklärte Dietrich. »Schnurre und Böll und solche Sachen, nicht wahr? Gut gemeint, auch nützlich, um die schlichteren Gemüter zu entnazifizieren, aber mit Literatur hat das natürlich wenig zu tun.«
Ich wischte mir die Hände noch einmal an der Hose ab und nahm eines von Dietrichs Büchern in die Hand: Erbarmen mit den Frauen von Henry de Montherlant.
»Größter französischer Stilist«, sagte Dietrich, »heute außerhalb Frankreichs kaum noch bekannt.«
Die anderen Bücher waren von August Strindberg, Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche, Otto Weininger und Peter Altenberg. Außerdem ein Fotoband von Leni Riefenstahl. Kannte ich alle nicht, das heißt: von Nietzsche hatte ich natürlich schon irgendwie gehört: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht , oder so ähnlich.
Ich fing mit Henry de Montherlant an und arbeitete mich über Strindberg zu Weininger vor. Jedes Buch stieß mir die Tür zu einer begehrenswerten Welt voller neuer Ideen und seltsamer Gedanken auf, und jedes Buch vertrat die Meinung, dass ich und meinesgleichen minderwertig oder abstoßend waren. Je mehr ich las, um so elender fühlte ich mich. Es war ja nicht so, dass ich vorher unter einem übersteigerten Selbstwertgefühl gelitten hätte.
Zunächst versuchte ich noch dagegenzuhalten.
»Das ist doch Unsinn«, sagte ich, »wie kann Montherlant behaupten, dass es in den Umkleideräumen von Mädchen viel mehr stinkt als in denen von Jungs. Das weiß doch jeder, dass es genau andersherum ist.«
»Das sind alles alte Bücher«, sagte Dietrich. »Da musst du einfach drüber hinweglesen.«
Fragte sich bloß, was von Otto Weininger noch übrig blieb, wenn man alle entsprechenden Stellen übersprang? Weininger zu lesen war, als würde einem die ganze Zeit mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Schlimmer setzte mir nur noch Peter Altenberg zu, der in jeder zweiten Geschichte damit prahlte, dass er der einzige wäre, der die Seele der Frau ganz verstünde. Aber das, was die Frauen in seinem Buch sagten und taten, ähnelte so sehr dem, was Peter Altenberg dachte und wünschte, dass es an Gewalttätigkeit grenzte. Peter Altenberg zu lesen war, wie vor dem Abflussrohr der hoteleigenen Kläranlage zu schwimmen.
19
Ich konnte mir immer noch nicht die Straßennamen merken. Anfangs hatte ich gedacht, das würde sich mit der Zeit geben. Wenn ich erst eine Weile gefahren war, würde ich sie alle drauf haben. Aber inzwischen fuhr ich ja fast schon ein Jahr lang, und es wurde eher schlechter als besser. Ich begann, auch noch die zu vergessen, die ich bereits gelernt hatte. Jemand wollte in den Klosterwall. Der Name stand sofort wie geschrieben vor meinen Augen. Ich wusste, dass es eine Straße im Innenstadtbereich war. Ich wusste, dass ich schon mehrfach dort gewesen war, aber mir fiel trotzdem nicht ein, welche Straße das sein sollte. Oder ich kannte die Straße, hatte aber keine Ahnung, wie man am schnellsten hinkam. Dann hielt ich immer so ungefähr die Richtung und hoffte bei jeder Kreuzung, dass es mir gleich wieder einfallen würde.
Deswegen nahm ich auch kaum Freigaben an. Wenn eine Tour freigegeben wurde, war es egal, wo man sich gerade aufhielt, man musste bloß innerhalb von sechs Minuten beim Kunden vorgefahren sein. Vermutlich war ich die Einzige, die diese Auflage ernst nahm. Es war ja völlig unwahrscheinlich, dass sich ein Fahrgast beschwerte, bevor nicht mindestens zehn Minuten vergangen waren. Und wenn dann die Funkerin fragte, wo man so lange bliebe, konnte man immer noch sagen: »Ich steh doch schon längst hier unten«, und bis der erboste Kunde dann den Hörer aufgelegt hatte und die Treppe wieder heruntergelaufen war, war man tatsächlich unten vorgefahren. Aber dafür hatte ich nicht das Nervenkostüm.
Eines Abends, als ich ganz vorne am Bahnhof Altona stand und Udo-Dreidoppelsieben bei mir im Wagen saß, rief die Funkerin Karl Muck.
»Karl-Muck-Platz … Bereich Karl-Muck … für Hütten …«
»Hütten! Das schaffst du«, rief Udo-Dreidoppelsieben und hieb mit der flachen Hand wie wild auf meiner Funkgabel herum – tackern oder dibbern nannte
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