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Taxi

Titel: Taxi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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einer der beiden hoffnungslos unterbesetzten Kassen saß immer ein Mann. Der einzige Mann, den ich jemals an der Kasse eines Supermarkts gesehen hatte. Ein Stoiker. Mit der gleichen Ruhe, mit der er sich den Betrag von vier Mark dreiundachtzig aus einem Haufen sandiger Groschen und Pfennigstücke heraussuchte, führte er auch einen randalierenden Betrunkenen nach draußen oder zog einem anderen den unbezahlten Schnaps aus der speckigen Jacke, während der ihm mit der bezahlten Salami auf den Kopf zu schlagen versuchte. Vor den Kassen des Höllen-Pennys warteten lange Schlangen, die sich manchmal zwischen den Lebensmittelregalen um mehrere Ecken herum hinzogen. Die Obdachlosen, die hinten standen, brüllten den Obdachlosen weiter vorne Botschaften zu, rempelten dabei die anderen Kunden an und hüllten sie in einen Dunst von Rotwein, ranzigem Schweiß, Urin, Zigarettenkippen und Kotze. Die Penny-Kunden, die noch einen festen Wohnsitz hatten, sahen auf die preiswerten Lebensmittel in ihren Gitterwagen und versuchten, möglichst flach zu atmen. Alle taten, als ob die Schnapsbrüder gar nicht da wären oder als ob sie selbst nicht da wären. Einmal hatte ich einen Obdachlosen angestarrt, dessen Pullover mit Erbrochenem bedeckt war. Daraufhin war er auf mich zugekommen, hatte sich vor mir aufgebaut und gesagt:
    »Riecht gut, was? Willst du mal dran lecken?«
    Ständig nahm ich mir vor, für ein paar Tage auf Vorrat zu kaufen, um mir das hier zu ersparen. Aber wenn ich dann im schlimmsten Penny-Markt Deutschlands war, griff ich mir eine Packung Miracoli oder ein tiefgefrorenes Fertiggericht und sah zu, dass ich so schnell wie möglich wieder rauskam.
21
    Dietrich stand vor meinem Herd, um für uns zu kochen. Das war eine neue Idee von ihm, dass wir gemeinsam essen sollten. Er kochte lieber unten bei mir, weil sein eigener Herd mit eingebrannten Essensresten verklebt war, die zu kokeln begannen, wenn man die Platten anstellte. Mir war das recht. Ich ekelte mich vor seiner Küche, in der der Abfalleimer süßliche Verwesungsgerüche verströmte. Dietrich kochte immer das Gleiche. Zuerst bereitete er einen großen Topf Reis, dann erhitzte er Tiefkühlgemüse, schüttete es darüber und anschließend holte er ein Hähnchen vom Imbiss und mischte das Fleisch darunter. Das Ganze würzte er mit Curry-Ketchup der Firma Hela. Ein wahres Wunderelixier. Egal wie gut irgendetwas schmeckte, mit Hela-Ketchup schmeckte es noch besser.
    Dietrich setzte gerade das Wasser für den Reis auf, als es an der Tür klingelte. Ich drückte auf die Gegensprechanlage. Es war Rüdiger. Kurz darauf sprengte er mit wilden, schlecht koordinierten Bewegungen herein. Auf dem Kopf trug er seine Prinz-Heinrich-Mütze, und am ausgestreckten Arm hielt er eine Zeitung.
    »Hier«, er drückte mir die Zeitung in die Hand. Sie war in der Mitte aufgeschlagen.
    »Lies das, das ist wichtig für dich.«
    Er klopfte auf einen Artikel, ging dann zur Tür zurück und stampfte einen Büffeltanz auf meiner Fußmatte. Gleichzeitig griff er sich eines der Bücher, die auf dem Fensterbrett neben der Tür lagen.
    »Ah, Henry de Montherlant – der Einzige von den Froschfressern, den man aushalten kann.«
    Er wandte sich an Dietrich: »Komm mal mit nach oben, dass wir ungestört sind.«
    Zu meinem Erstaunen ging Dietrich tatsächlich mit Rüdiger hinaus. Ich stellte erst mal die Herdplatte aus. Im Grunde war es mir ganz recht. Diese gemeinsamen Essen kosteten immer zu viel Zeit. Bis wir fertig waren, war es meistens schon sechs. Dietrich machte das nichts, denn sein Tagfahrer stellte ihm das Taxi direkt vor die Tür. Aber ich musste ja immer noch mit dem Fahrrad fünf Kilometer bis zur Firma fahren und fing dadurch eine halbe Stunde später an. Und das in der Zeit, in der man am meisten verdiente.
    Ich sah mir den Zeitungsartikel an. Er handelte davon, dass Frauen ein deutlich kleineres Gehirn als Männer besaßen und welche üblen Konsequenzen das für sie hatte. Seit ich unter Dietrich eingezogen war, war Rüdiger von Tag zu Tag gehässiger geworden. Allmählich reichte es. Auch junge Schimpansenmännchen durchliefen eine Phase der Aggression gegen die Weibchen, aber Rüdiger war ja nicht mehr jung, der war beinahe schon dreißig. Außerdem hatte ich im Laufe meines Lebens genug Tierbücher gelesen, um mir nicht solchen Unfug vorhalten lassen zu müssen. Ich steckte die Zeitung unter den Arm und ging den beiden nach. Im Treppenhaus kam mir Majewski entgegen. Jens Majewski

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