Taxi
genommen. Lerchenhöhe – das war eine zugewachsene kleine Straße, weit draußen in Volksdorf. Die Wahrscheinlichkeit, einen Taxifahrer zu erwischen, der sie kannte, lag bei unter einem Prozent. Selbst bei jemandem, der sein Leben in Volksdorf verbracht hatte, war es mehr als unwahrscheinlich, dass er jemals von der Lerchenhöhe gehört hatte. Aber hier war ich, Top-Fahrerin der Firma Mergolan, und vor einer Woche hatte ich schon einmal eine Tour in die Lerchenhöhe gehabt, und obwohl ich normalerweise unter einem schlechten Gedächtnis litt und ständig im Stadtplan blättern musste, konnte ich mich diesmal daran erinnern.
»Gut«, sagte ich, »in die Lerchenhöhe.«
Ich war eine Zierde meines Berufsstandes, eine Könnerin des Lenkrads, ein Genie der Erinnerung. Der Fahrgast sagte Lerchenhöhe und ich fuhr los, ohne eine Sekunde zu zögern. Während die Frau auf dem Rücksitz in ihren Karstadt-Tüten wühlte, schnurrte ich wie auf Gleisen am Atlantik-Hotel vorbei, sauste die Bramfelder Chaussee hoch, bog in Wellingsbüttel rechts ab, dann sofort wieder links, fuhr den zappendusteren Volksdorfer Weg hinunter, der aussah, als würde man im Nirgendwo landen, kam plötzlich kurz vor dem hell erleuchteten Volksdorfer Bahnhof wieder heraus, kurvte elegant an ihm vorbei, bog beim Eiscafé rechts ab und dann – zack – über die Brücke und geradeaus. Der Frühling strotzte über die Gartenzäune. Jetzt musste ich bloß noch die Zweite links abbiegen und wir befanden uns am Ziel. Ich war Doktor Allwissend, ich war das Gedächtniswunder Memorabile, ich war Hirn-2000. Und was sagte die Frau mit den Plastiktüten in diesem Moment?
»Die Zweite links, das ist dann die Lerchenhöhe.«
War das zu fassen? Hier musste ich also links abbiegen. Als hätte ich keine Ahnung und wäre ohne ihre Hilfe völlig aufgeschmissen. Und bis Volksdorf war ich dann einfach mal so auf Verdacht gefahren, oder was?
31
»So sind sie. Das machen sie immer«, sagte Dietrich. »Da kann man drauf wetten. Steigen irgendwo in der Stadt ein, nennen dir einen wahnwitzig unbekannten Straßennamen, wundern sich eine halbe Stunde lang nicht, dass du nicht nachgefragt hast, und eine Minute, bevor du da bist, fangen sie plötzlich an, dir den Weg zu erklären.«
Bis auf Udo-Zwonullfünf waren alle versammelt. Wir saßen im Schweinske, schauten aus dem Fenster auf den Bauch der S-Bahnbrücke und aßen Koteletts. Nur Dietrich hatte sich ein Wiener Schnitzel bestellt.
»Man müsste eine Schule für Fahrgäste einrichten«, sagte Taximörder, »wo die lernen, wie sie sich im Taxi zu benehmen haben. Vielleicht mach ich mal eine auf.«
»Was willst du denen denn beibringen, außer dass sie das Maul halten sollen«, fragte Dietrich.
»Na alles, von Anfang an. Dass man Kleingeld dabei haben muss. Wie man einsteigt und dass man guten Tag sagt und wie man die Tür zumacht, damit sie nicht knallt, aber auch nicht halboffen stehen bleibt.«
»Ja, genau, sehr gute Idee«, sagte Udo-Dreidoppelsieben.
Das mit den Türen war wirklich ein Problem. Bei den älteren Mergolan-Taxen schlossen die rechten Türen nur noch mit Schwung, und zwei Drittel der Fahrgäste waren nicht in der Lage, sie auf Anhieb zu schließen. Was bedeutete, dass man den Fahrgast auffordern musste, es noch einmal zu versuchen, woraufhin derjenige die Tür dann meist wie ein Bescheuerter zuknallte. Dass man immer schon vorher wusste, dass er es gleich tun würde, machte die Sache nicht besser.
»Und wann man sich nach vorne und wann man sich nach hinten setzt. Dass man sich zum Beispiel nach hinten setzt, wenn man stinkt. Wie viel Trinkgeld man gibt, und worüber man reden darf, und was für Fragen man auf keinen Fall stellen sollte … – eben alles.«
»Mich fragen die Fahrgäste immer: Na, was sind Sie denn für’n Landsmann?«, sagte Udo-Dreidoppelsieben. »Und wenn ich dann Deutscher sag, kucken die blöd. Das begreifen die nicht, dass ein Deutscher ’nen schwarzen Schnauzbart hat.«
»Mich fragen die Fahrgäste immer, ob ich denn gar keine Angst habe«, sagte ich. »Das ist die häufigste Frage, die ich mir anhören muss, seit ich Taxi fahr. Vorher war die häufigste Frage, ob ich denn jetzt endlich wüsste, was ich werden will.«
Rüdiger sah von seinem uralten, fleckigen Buch auf und kratzte sich mit dem Bleistift, mit dem er seine Anmerkungen gemacht hatte, am Hals.
»Und? Weißt du es inzwischen? Oder willst du dein Leben lang Besoffene kutschieren?«
»Mich fragen sie immer,
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