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Taxi

Titel: Taxi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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du hast ja wahrscheinlich gearbeitet. Es war einer von denen, die früher immer behauptet haben, die Chance, dass jemals irgendein Atomkraftwerk hochgehen könnte, läge bei eins zu vierzig Millionen. Jetzt tut er so, als wäre ihm die ganze Zeit klar gewesen, dass die sowjetischen Kraftwerke eine wackelige Angelegenheit sind – eine überalterte Bauserie. Jetzt behauptet er nur noch, die westeuropäischen und amerikanischen Kraftwerke wären sicher. Eins zu vierhundert Millionen wahrscheinlich.«
    »Na ja«, sagte ich, »letztlich ist auch ein Physiker ein zoologisches Phänomen. Vielleicht ist er dominant. Ein dominantes Primatenmännchen kann schwer nachgeben, geschweige denn Fehler eingestehen – völlig egal, ob es sich um einen Physiker oder einen Schimpansen handelt. Da hilft dann auch der Doktortitel nicht weiter.«
    »Solche Typen lernen nicht einmal dann dazu, wenn es bereits zu spät ist«, sagte Marco. »Der wird sich immer noch rausreden, wenn wir mitten im nuklearen Winter stecken. Als ob es ihn selber nicht mit erwischen würde.«
    Als ich darauf nichts erwiderte, fing Marco etwas übergangslos an, über die Psychoneurose zu reden. Die Psychoneurose war der Irrweg der Unversöhntheit und Mutlosigkeit, behauptete Marco. Es ging um irgendwelche Lebensschablonen, die zerstört und durch andere ersetzt werden mussten. Sehr wirr das Ganze. Mittendrin brach Marco plötzlich ab, sah auf meinen Mund, sah mir kurz und scheu in die Augen und schnell zur Seite. Stille. In der Küche schmatzte eine Uhr. Marco sah mir noch einmal in die Augen, dann räusperte er sich:
    »Frag mich bloß nicht, was ich gerade denke.«
    »Nein, hab ich nicht vor«, sagte ich, »das interessiert mich sowieso nicht. Erzähl mir lieber, was ich gerade denke.«
    »Du überlegst, ob du es überhaupt mit mir machen willst«, sagte Marco. »Und du bist dir unsicher«, fügte er leiser hinzu.
    »Ich weiß nicht, ob das gut ist …«, sagte ich genauso leise.
    »Es ist gut.«
    Er rückte ein Stück zu mir heran und öffnete mit einer Hand die obersten Knöpfe meines Hemdes. Er beeilte sich nicht im Geringsten und schaute mir dabei direkt in die Augen. Keine Ahnung, woher er jetzt auf einmal den Mut dafür nahm. Ich schluckte. Meine Haut fühlte sich an, als würden mir plötzlich überall Haare wachsen. Als Marco mit den Knöpfen fertig war, legte er mir seine Hand über die Augen und drückte meinen Kopf auf den Teppich. Er beugte sich über mich. Ich hörte seinen Atem, dann glitt seine Zunge zwischen meine Lippen. Sie schmeckte ganz leicht nach Ingwer. Zuerst küsste er mich drängend und wütend, wühlte sich in meinen Mund hinein, dann wieder küsste er aufreizend langsam. Mit der einen Hand hielt er mir immer noch die Augen zu, die zweite wanderte unter mein Hemd. Seine Handflächen waren rau wie Hundepfoten.
34
    Kurz vor eins stellte ich mich als viertes Taxi am Großneumarkt an. Ich war überwach und fröstelte. Vor mir warteten Taximörder, Dietrich und Rüdiger. Ich wäre gern noch ein bisschen für mich gewesen, aber es wäre aufgefallen, wenn ich mich nicht zu ihnen in die erste Taxe gesetzt hätte.
    » … du musst dich doch praktisch an jeder Kreuzung neu entscheiden«, sagte Taximörder gerade, »also wenn man leer fährt, meine ich. Fahr ich jetzt zum Karl-Muck-Platz oder schau ich erst beim Gänsemarkt vorbei. Da sind doch mindestens fünfzig oder, na ja, also wenigstens zwanzig solcher Entscheidungen, die man jede Nacht treffen muss, ohne jemals zu wissen, was die richtige Entscheidung ist.«
    »Na und?«, sagte Rüdiger, ohne von seinem Buch aufzusehen.
    »Unter Umständen hängt die ganze Nacht von einer einzigen falschen Entscheidung ab«, erläuterte Taximörder seine neue Erkenntnis. »Fährst du zum Siemersplatz statt zur Reeperbahn – verpasst du womöglich eine Ferntour und kriegst stattdessen bloß eine Kurztour. Und die Kurztour bringt dich dann vielleicht auch noch irgendwohin, wo dir als Nächstes das Portemonnaie geklaut wird.«
    »Genau«, kam ich Taximörder zu Hilfe, »einmal falsch abgebogen, und man überfährt ein Kind. Oder man wird überfallen, bloß weil man sich Eppendorfer Markt statt Winterhude hingestellt hat. Die ganze Nacht heute wäre ja völlig anders verlaufen, wenn ich zum Beispiel statt um sechs erst um sieben angefangen hätte.«
    Dietrich gähnte.
    »Wie kommt es dann, dass ich euch jede Nacht um eins am Großneumarkt treffe?«
    »Das Leben aller Menschen ist von einer großen Anzahl

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