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Taxi

Titel: Taxi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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nach Romanen – die richtigen Bücher bekam ich immer noch von Dietrich: Hemingway, Kierkegaard, Ouspensky, Gustav Frenssen. Ich suchte nach Büchern, von denen Dietrich nichts gehalten hätte, nach Büchern mit naiven, zuversichtlichen Titeln, die mir erklären sollten, was eigentlich mit mir los war – wieso ich nicht endlich mein Leben auf die Reihe bekam.
    Eines Nachmittags im April arbeitete ich mich gerade durch die Ratgeber von L bis M, als einige Meter neben mir ein dickes Buch zu Boden polterte. Jemand, der nicht bis an die oberen Regalbretter reichte, hatte versucht, es dort herauszuziehen. Zuerst sah ich ihn bloß von hinten. Mein Gott, dachte ich, was hat ein Zehnjähriger in der Philosophieabteilung zu suchen. Dann merkte ich, dass es ein Kleinwüchsiger war, und als er sich zu mir umdrehte, erkannte ich den verwirbelten blonden Haarschopf und das sommersprossige Gesicht mit dem ernsten schmalen Mund wieder. Marco. Wir waren zusammen zur Schule gegangen, auch wenn ich nie besonders viel mit ihm zu tun gehabt hatte. Er galt als das Klassengenie. Klein und klug. Das ganze Zeugnis voller Einsen. Sonst wusste ich eigentlich nur, dass seine Eltern reich waren. Seinem Vater gehörte eine halbe Brauerei. Auf Klassenfesten hatte ich immer Angst gehabt, das Marco mich zum Tanzen auffordern könnte. Ich war schon mit fünfzehn Jahren einen Meter achtzig groß gewesen, und er hatte so oft zu mir herübergesehen. Zum Glück hatte Marco überhaupt nicht getanzt. Es hätte auch albern genug ausgesehen – selbst wenn er eines der kleineren Mädchen aufgefordert hätte.
    »Ach, du bist es. Was machst du denn hier?«, fragte er jetzt und schob seine Hände vor Verlegenheit in die Taschen seiner Jeans. Es gelang ihm gerade mal so. Seine Extremitäten waren verkürzt, besonders die Arme, während sein Rumpf beinahe normal gewachsen war.
    »Was soll ich hier schon machen?«, sagte ich patzig. »Was machst du denn hier?«
    »Na ja, ich wusste ja nicht, dass du überhaupt liest«, sagte Marco und sah zur Seite, »ist mir in der Schule jedenfalls nie aufgefallen. Du bist doch eigentlich nicht der Typ, der liest. Ich wollte bloß etwas nachschlagen.«
    Er hob das dicke Buch auf. Ein Nietzsche-Lexikon.
    »Nietzsche«, sagte ich möglichst lässig, »das ist mir der Richtige. Das halbe Leben lang gegen das Mitleid wettern und am Ende dann einem geprügelten Karrengaul um den Hals fallen. Das ist wahrscheinlich sowieso das einzig Gute, was der je zustande gebracht hat, das mit dem Karrengaul.«
    »Langsam, langsam«, sagte Marco und lächelte überlegen. Dafür, dass er dabei die ganze Zeit zu mir aufschauen musste, gelang ihm das erstaunlich gut. »Nietzsche ist schon ein ganz Großer.«
    »Ach was«, sagte ich, »das Einzige, was die meisten Menschen von ihm kennen, ist doch bloß: Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht! Und diese tolle Erkenntnis hat er dann auch noch ausgerechnet einer Frau in den Mund gelegt. Von wegen: wenn’s die Weiber selber sagen, dann muss es ja wohl stimmen. Sehr unsaubere, selbstgebastelte Beweisführung …«
    »Aber das ist doch ein Zitat«, sagte Marco und verdrehte die Augen, »Nietzsche zitiert eine Feministin seiner Zeit. Die ganze heutige Aufregung über diesen Satz beruht doch bloß auf einem Missverständnis.«
    »Umso schlimmer. Dann beruht nämlich auch Nietzsches Popularität bloß auf einem Missverständnis.«
    »Es ist nicht seine Popularität, die seine Bedeutung ausmacht«, sagte Marco streng. Er schob das Nietzsche-Lexikon in eines der unteren Regale, steckte die Hände wieder in die Hosentaschen, sah mich an und wippte auf den Fersen.
    »Was machst du so? Studierst du?«
    »Ich fahr Taxi.«
    »Als Job? Was studierst du denn?«
    Einerseits war es natürlich schmeichelhaft, dass er mich für jemanden hielt, der mehr auf der Pfanne hatte als den Hamburger Stadtplan, für jemanden, der sich eigentlich mit Astrophysik oder Sozialpädagogik beschäftigte. Andererseits war das aber nun einmal ganz und gar nicht der Fall. Ich war Taxifahrerin, sonst nichts, und genau genommen überforderte mich ja bereits dieser Beruf.
    »Nichts. Ich fahr bloß Taxi. Was machst du?«
    »Ich trete jetzt im Zirkus auf – nein, war nur Quatsch – ich studier Psychologie. Und nebenbei Philosophie.«
    »Ich muss los«, sagte ich, »ich muss noch arbeiten. Um sechs muss ich mein Taxi abholen.«
30
    »Lerchenhöhe«, sagte die Frau. Sie hatte neben ihren fünf Plastiktüten auf dem Rücksitz Platz

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