Taxi
Rottönen. Überall standen nette kleine Bänke herum. Sogar ein Gartenschach gab es. Die alte Frau schlurfte langsam, aber sehr aufrecht davon.
Ich legte den Rückwärtsgang ein und machte mich wieder auf den Weg zurück in die Innenstadt. Die letzten Nachzügler des Feierabendverkehrs kamen mir entgegen. Mit verbiesterten Gesichtern saßen sie in ihren angezahlten Golfs und Kadetts und BMWs und hatten es eilig, vor den Fernseher zu kommen. Die würden auch alle sterben. Genau wie ich. Wenn ein Krieg ausbrach oder ein Atomkraftwerk in der Nähe hochging, würden wir sterben, und wenn kein Krieg ausbrach und kein Atomkraftwerk hochging, würden wir auch sterben. Das war das eigentliche Problem. Auch wenn ich keine Milch trank und keine Pilze aß und keinen Autounfall hatte und mir jeden Abend die Zähne putzte – in ein paar Jahren würde ich tot sein. Und falls ich mir vorher die Zeit nahm, über mein Leben nachzudenken, würde ich wahrscheinlich sehr wütend werden.
2. Teil
September 1989 – Juni 1990
1
Und dann waren fünf Jahre um und ich fuhr immer noch Taxi. Zur Reeperbahn. Zum Flughafen. Zum Mittelweg. Die Fahrgäste wurden immer hässlicher, dreckiger und boshafter, und sie stellten immer noch die gleichen Fragen. »Haben Sie keine Angst? Ja, sagen Sie mal, haben Sie denn überhaupt keine Angst?« Ich antwortete, ohne zu wissen, was ich sagte, schaltete, ohne zu wissen, wo ich gerade lang fuhr. Am Ende einer Nacht konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, in welchen Stadtteilen ich gewesen war. Die Touren verschmolzen zu einem Brei aus Lichtern, Straßen, Zigarettenrauch und ewig gleichem Gerede. Und dann das Warten. Immer nur warten. Am Posten Karl-Muck, am Siemersplatz, am Großneumarkt. Und wenn man dann endlich eine Tour vermittelt bekommen hatte, musste man wieder warten, vor dem Springer Verlag, vor dem Funny Club, vor dem Chesa, unter der Brücke für Hansafilm Wendt, vor irgendeiner zerschrammten Haustür. Ich wartete vor Ampeln, ich wartete darauf, dass die Fahrgäste endlich ausstiegen. Natürlich gab es noch viel Schlimmeres, als Taxifahrerin zu sein, mir fiel bloß nichts ein. Außerdem gab es sowieso keinen Ausweg. Was hätte ich machen sollen? Wenn ich mich entschieden hätte, ein Studium anzufangen, hätte ich wahrscheinlich fünf Jahre auf einen Studienplatz warten müssen. Wieder warten. Dabei war ich jetzt schon zu alt. Langsam begriff ich, warum die alten Taxifahrer die jungen so hassten. Es war diese noch ungebrochene Kraft, mit der die jungen Fahrer eine Tour nach der anderen rissen, die Leichtigkeit und der Spaß, mit der sie eine Arbeit erledigten, die mir das Mark aus den Knochen saugte. Wenn ich nur nicht immer so schrecklich müde gewesen wäre. Die ganze Nacht hielt ich schon lange nicht mehr durch. Spätestens gegen drei Uhr morgens machte ich schlapp. Manchmal brach ich die Schicht auch schon um Mitternacht ab und kam mit fünfzig oder sechzig Mark nach Hause. Oder ich fuhr tagelang gar nicht, lag im Bett und sah fern. Mit mir war es vorbei. Ich hatte einfach keinen Biss mehr. Jede Bewegung kam mir ungeheuer anstrengend vor. Und sinnlos. Essen, trinken, aufstehen, sich die Zähne putzen – wozu eigentlich? Je länger ich im Bett lag, desto schwieriger erschien es mir, je wieder aufzustehen. Im August bekam ich nicht einmal mehr das Geld für die Miete zusammen und musste mir den Rest von Dietrich leihen. Von Nacht zu Nacht wurde ich müder und hörte eher auf. Ich musste das ausgleichen, indem ich früher anfing. Wenn in der Firma ein Taxi frei war, fuhr ich schon am Nachmittag los. All die hässlichen Menschen bei voller Beleuchtung. Das siffige Armaturenbrett und die überquellenden Aschenbecher. Stinkender, klebriger, widerlicher Dreck von stinkenden, klebrigen, widerlichen Menschen. Ich betete immer, dass es möglichst schnell dunkel werden sollte.
2
Es war Sonntag. Nachmittags. Seit zwei geschlagenen Stunden wartete ich am Glockengießerwall vor dem Hauptbahnhof. Zuerst hatte ich in dem stickigen Kabuff meines Taxis vor mich hin geschmort, dann hatte ich mich in die sengende Sonne gestellt. Nächste Woche fing offiziell der Herbst an, aber es war heiß wie im Juli. Nicht weit von mir standen drei alte Taxifahrer und unterhielten sich. Das hieß, einer von ihnen redete, erzählte von seiner letzten Tour, wo er gewesen war, was sein Fahrgast gesagt hatte und was er darauf geantwortet hatte. Die anderen beiden hörten nicht richtig zu, warteten ungeduldig darauf, dass
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