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Taxi

Titel: Taxi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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war. Man konnte von niemandem erwarten, dass er sagte: Okay, wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein willst, dann finde ich auch, dass du gehen solltest. Menschen waren anders. Menschen litten, wenn man sie verlassen wollte. Sie sagten: Nein, nein, bleib hier. Das war normal. Und normal war auch, dass man dann trotzdem ging. Und wenn man dazu nicht in der Lage war, stimmte eben mit einem selbst etwas nicht. Warum verschwand ich eigentlich nicht einfach, ohne etwas zu sagen. Die Möglichkeit gab es ja schließlich auch noch. Aber wohin? Und wie sollte ich meine Wohnung kündigen? Und wie sollte ich eine neue Wohnung anmieten? Nein, das ging nicht. Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur daran dachte. Am besten, ich brachte mich um. Das war das Unkomplizierteste. Andererseits: vielleicht entwickelte ich mich ja irgendwann doch noch zu einem normalen Menschen. Das gab es, dass Leute plötzlich einen großen Entwicklungssprung machten. Ich wurde ja immer älter und älter, und eines Tages war ich vielleicht sogar in der Lage, ganz allein eine Wohnung anzumieten. Vielleicht zehn Jahre noch. So schnell wollte ich die Flinte nicht ins Korn werfen.
    Ich schloss die Wohnungstür hinter mir. Endlich. Wie schön dunkel es hier war. Die Gardinen zog ich überhaupt nicht mehr auf. Das blendete bloß beim Fernsehen. Ich packte mich aufs Bett und drückte auf die Fernbedienung. Es gab einen alten Tierfilm mit einer Würgeschlange in der Hauptrolle. Ah, so konnte man es aushalten. Die Anakonda glitt zwischen Seerosenblättern über einen grünen See. Ich überlegte, dass ich es mir mit dem Fünfziger von Dietrich eigentlich leisten könnte, den nächsten Tag blau zu machen und vierundzwanzig Stunden im Bett zu bleiben. Eine herrliche Vorstellung. Aber ich wusste auch, dass es danach noch schwieriger sein würde, wieder ins Taxi zu steigen. Ich durfte nicht aus dem alten Trott herauskommen, sonst schaffte ich es nicht. Sonst hielt ich das hier nicht durch. Bald würde ich nicht mehr in der Lage sein, überhaupt noch zu arbeiten. Und dann konnte ich noch nicht einmal ein Sozialfall werden, weil ich ja nicht wusste, wie man Sozialhilfe beantragte. Faszinierend, wie schnell es plötzlich abwärts ging. Ruckzuck und man lag in der Gosse. Hatten meine Eltern also doch recht gehabt.
    Die Riesenschlange war jetzt dabei, ein junges Wasserschwein zu verschlingen. Nur noch das Hinterteil schaute heraus. Vielleicht lebte es noch. Vielleicht erstickte es gerade langsam im stinkenden Rachen der Anakonda und hatte schreckliche Angst und fürchterliche Schmerzen, während die Tierfilmer sich gegenseitig in die Seite knufften und »super Szene« zuflüsterten. In den Siebzigern hatte man es noch für nötig gehalten, sich für solche Filmstellen zu rechtfertigen.
    »Leider konnten wir dem Opfer nicht helfen«, sagte deswegen jetzt der Sprecher, »nein, wir durften ihm sogar nicht helfen, denn das hätte bedeutet, in den Lauf der Natur einzugreifen.«
    Na und? Der tat gerade so, als würde der Himmel einstürzen, wenn man einer Würgeschlange die Beute wegnahm. Als wäre er nicht scharf drauf gewesen, genau diese Szene in den Kasten zu bekommen. Vielleicht hatte er sogar ein ganz klein bisschen nachgeholfen. Naturfilme, das waren immer auch Snuff-Filme für den Raubaffen Mensch. Diese aggressive Primatenart sah es nun einmal sehr gern, wenn eine Robbe von einem Hai zerrissen wurde oder ein Gepard einer Antilope das Genick brach oder wie jemand bei lebendigem Leib langsam hinuntergewürgt wurde.
    Mir fiel der Brief wieder ein, den ich immer noch in der Tasche hatte. Ich nahm ihn heraus. Er war nicht von Marco, sondern sah eher wie ein Werbebrief aus. Ich öffnete ihn.
    »Sehr geehrte Frau Herwig,
    tagein tagaus im Job hart arbeiten? So kommen leider die wenigsten an ein echtes Vermögen. Millionäre wissen, wie es geht: Es kommt darauf an, seine Chancen wahrzunehmen. Und hier ist Ihre Chance, liebe Frau Herwig:
    Kaum zu fassen, aber dieses Schreiben kann Ihnen 10.000.000 Deutsche Mark (in Worten: zehn Millionen) einbringen. Denn das Zufallslos hat ausgerechnet Sie, Frau Herwig, als eine von einhundertdreizehn auswahlberechtigten Personen in Hamburg-Neustadt ausgewählt und Ihnen eines der begehrten Lose unserer 113. Ausspielung reserviert. Die Gesamt-Gewinnsumme beträgt übrigens über 400 Millionen DM. Diese enormen Geldmengen machen es nötig, dass der Zugang zur Lotterie geregelt wird.«
    Dann wurde der Brief kompliziert. Ich sollte meine

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