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Taxi

Titel: Taxi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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Konsequenz.«
    »Vierdreiacht?«
    Beinahe hätten wir das Funkgerät überhört.
    »Ja, Vierdreiacht im protestantischen Taxi von Zwodoppelvier.«
    »Sehr interessant, Vierdreiacht. Wären Sie trotzdem bereit, Melanie im Funny Club abzuholen?«
    »Funny Club für Melanie, danke Vierdreiacht.«
    »Danke Vierdreiacht.«
    »Darf ich dir mal was sagen?«, fragte Udo-Zwonullfünf als Rüdiger ausgestiegen war.
    »Was?«
    »Du hältst dich wahrscheinlich für intellektuell, weil du irgend so ein Buch schreibst …«
    »… Kurzgeschichte …!«
    »… aber ich glaube, im Grunde versuchst du bloß, uns nachzumachen. Du willst so sein wie wir.«
    »Was? Wie bitte?«
    »Siemersplatz?«
    »Zwodoppelvier«
    »Zwodoppelvier. Lockstedter Steindamm der Funny Club für Natascha.«
    »Funny Club für Natascha. Danke Zwodoppelvier.«
    »Danke Zwodoppelvier.« Udo-Zwonullfünf stieg aus.
    Natascha, das war immer eine Supertour, weil sie in Pinneberg wohnte. Eine Zwanzig-Kilometer-Strecke, und der größte Teil davon war Autobahn.
46
    Ich fuhr nach Poppenbüttel, eine alte Frau wollte zu einem Altersheim am Ende der Alten Landstraße. Es war am frühen Abend und die Sonne schien vom Oktoberhimmel herunter und tauchte alles in ein goldenes Licht. Die Frau hatte weiße Haare, sie war sehr schlank und groß, trug eine Hornbrille und hatte einen hellbraunen Mantel an. Alte Frauen aus der Mittelschicht fuhr ich am liebsten. Diese gutartigen, von ihrer eigenen Unwichtigkeit zutiefst überzeugten Kleinbürgerinnen beschwerten sich nie. Weder Weltkriege noch Inflationen hatten ihr Vertrauen in die Welt erschüttern können. Ohne die geringsten Bedenken lieferten sie sich Ärzten, Handwerkern, Altenheimen, Bus- und Taxifahrern aus. Mit ihnen konnte man mit hundert Sachen durch den Stadtverkehr flitzen, ohne dass sie auch nur mit der Wimper zuckten.
    Im Radio lief dieses schwermütige Lied aus Cats .
    »Dieses Lied bringt mich zum Weinen«, sagte die alte Frau. »Immer wenn ich es höre, muss ich weinen.«
    Sie weinte aber überhaupt nicht, jedenfalls waren ihre Augen trocken.
    »Ich bin jetzt achtundachtzig Jahre«, sagte sie, »und ich weiß ja, dass das alt ist und dass ich jeden Tag damit rechnen muss, tot umzufallen – aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen, dass ich jetzt sterben werde.«
    Ich nickte. Es kam nicht oft vor, dass eine alte Frau etwas Interessantes oder auch nur Persönliches sagte, deswegen war ich nicht vorbereitet. Ich wollte etwas Tröstliches antworten, aber mir fiel nichts Tröstliches ein, was nicht vollkommen verlogen gewesen wäre.
    »Achtundachtzig Jahre, das ist ja auch viel zu kurz«, sagte ich schließlich. »Fünfhundert oder wenigstens dreihundert Jahre, damit könnte man etwas anfangen. Man hätte Zeit, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, und man könnte vielleicht jemanden finden, der einem wirklich etwas bedeutet. Fünfzig Jahre braucht man doch allein schon, um herauszubekommen, was man eigentlich will. Und siebzig Jahre, um die wichtigsten Bücher zu lesen. Und dann will man ja vielleicht auch noch ein paar alberne Hobbys haben, und dann geht ja noch so wahnsinnig viel Zeit mit solchen Sachen wie Schuhbandzumachen oder Staubwischen drauf.«
    »Ich kann es mir nicht vorstellen«, wiederholte die alte Frau. »Eben ist man noch da, und eine Sekunde später plötzlich nicht mehr. Einfach tot.«
    »Ist noch für keinen eine Ausnahme gemacht worden«, sagte ich. »Ich fürchte mich auch. Das mit dem Alter und der Sterblichkeit ist wirklich eine Sauerei.«
    Sie hielt mir betrübt ihre Hände hin.
    »Wissen Sie, wie das heißt?«, fragte sie und zeigte auf die braunen Flecken auf ihrer linken Hand. »Friedhofsblumen. Das sind Friedhofsblumen.«
    »Ich habe neulich einen jungen Mann gefahren«, sagte ich, »der in London in einem Sterbehospiz arbeitet. Das Erschreckende, hat der zu mir gesagt, das Erschreckende ist, dass die Leute vor ihrem Tod alle so voller Wut und Reue sind. Sie sind wütend, dass sie es so lange in einem miesen Beruf ausgehalten haben, oder dass sie immer noch mit ihrem Ehepartner zusammen sind, obwohl sie ihn längst nicht mehr lieben. Einige wollen nicht einmal, dass ihre Ehemänner oder Ehefrauen sie noch besuchen.«
    »Ich bin nicht wütend«, sagte die alte Frau. »Ich will bloß nicht sterben.«
    Ich ließ sie auf dem Gelände der schicken, modernen Altenwohnanlage heraus. Die Büsche und Bäume leuchteten in allen erdenklichen

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