Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
Tennessee
Dienstag, 16. Dezember
20:00 Uhr
Taylor quetschte Martin Kimballs Kisten auf die Rückbank ihres 4Runners und warf die Tür schwungvoll zu. Nachdem sie und Fitz ins Büro zurückgekehrt waren, hatte sie die Akten nur flüchtig durchgeschaut. Dabei hatte sie aber bemerkt, dass eine echte Suche vor Ort in der Asservatenkammer erforderlich war, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Der Papierkram und die Mordbücher waren alle in den Konferenzraum gebracht worden, aber das tatsächliche Beweismaterial musste im Lager bleiben. Es war einfach zu viel Aufwand, die Teile alle einzeln auszulisten. Fitz hatte sich freiwillig für diesen Gang gemeldet, und sie hatte das Angebot dankend angenommen. Er hatte versprochen, sich telefonisch zu melden, woraufhin Taylor beschloss, nach Hause zu fahren.
Sie stellte die Heizung an und versuchte, die endlosen Weihnachtslieder zu ignorieren, die aus den Lautsprechern dröhnten. Sobald ihre Hände aufgewärmt waren, stellte sie das Radio aus, aber „Stille Nacht“ hatte sich in ihren Kopf geschlichen, und während sie stadtauswärts fuhr, wiederholte sie die Worte abwesend wie ein nicht religiöses Mantra.
„Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht.“ Ja, schön wär’s.
Die Tatsache, dass ihnen vielleicht irgendwelche Informationen fehlten, nagte an ihr. Diese Informationen konnten alles oder nichts bedeuten.
Da sie wusste, dass Baldwin Hunger haben würde, hielt sie bei City Limits, einem großartigen Deli im New Yorker Stil ganz in der Nähe ihres Hauses. Sie kaufte Caesar’s-Salat mit Hühnchenstreifen und warme, frisch gebackene Baguettes.
Zu Hause angekommen, öffnete sie einen Flasche Sangiovese, einen einfachen, preiswerten Wein, den sie öfter tranken. Sie wunderte sich kurz, wo Baldwin war, stellte dann aber die Salate in den Kühlschrank und nahm ihre Akten und den Wein mit ins Wohnzimmer. Sie öffnete den ersten Karton, legte den Deckel auf den Boden und atmete den Duft ein, der ihr vorhin so nostalgische Erinnerungen beschert hatte. Pfeifenrauch und Staub. Warum sie das zum Lächeln brachte, wusste sie selber nicht.
Sie schaute sich jede Akte an, ohne jedoch etwas Neues zu finden. Nur das bei kalten Fällen übliche Material. Das Mordbuch, das aus mehreren Heftern bestand; zehn, um genau zu sein, je einen für jeden Mord. Fotoalben. Kopien von Beweisaufnahmeformularen. Diese sah sie sich besonders sorgfältig an und achtete auf Hinweise auf einen Siegelring. Einen fand sie bei Opfer Nummer zehn, Ellie Walpole. Genau wie Kimball gesagt hatte. In seiner ordentlichen Handschrift hatte er eine detaillierte Beschreibung des Ringes angefügt.
Sie verglich das mit ihrer eigenen Akte. Die Seite fehlte. Das musste nichts heißen – so etwas passierte immer wieder mal. Ein Stück Papier von fünftausend. Das hatte es auch vorher schon gegeben.
Beim sehr intensiven Studium der Autopsieberichte fand sie Hinweise auf die kahlen Stellen an den Hinterköpfen der Mädchen. Anscheinend hatte man das nicht für besonders wichtig gehalten.
Taylor wusste, dass der Killer die Haarbüschel vermutlich als Souvenir mitgenommen hatte. Viele Mörder nahmen sich ein Andenken mit – einen Führerschein, Slips, etwas Symbolisches, was sie immer wieder berühren konnten, um sich an ihre Morde zu erinnern und sie in Gedanken noch einmal zu erleben.
In den Berichten hatte nichts davon gestanden, dass irgendetwas von den Mädchen vermisst wurde. Aber eine Strähne von jedem Opfer wäre wirklich ein großartiges Andenken.
Taylor stand auf. Unruhig umrundete sie die Couch, das Weinglas in der Hand, dachte nach. Sie schaute auf die Uhr und fragte sich, wann Fitz wohl anrufen würde. Das Lagerhaus für die Beweise konnte zu einem wahren Bermudadreieck werden, wenn man nicht aufpasste. Nach etwas so Kleinem wie einem Siegelring zu suchen war vielleicht sogar unmöglich. Wenn der Ring wirklich weg war und nicht einfach nur verlegt, dann hatten sie ein Problem.
Sie schaute aus dem Fenster nach vorne auf die Straße, drehte eine Runde durchs Erdgeschoss, goss sich ein weiteres Glas Wein ein und setzte sich dann wieder auf die Couch. Sie fuhr fort, die Akten durchzusehen und die Originale mit ihren Kopien zu vergleichen. Es fehlten noch ein paar andere Blätter, aber zum Großteil war alles da. Eines der Dinge, die sich nicht in ihren Unterlagen fanden, waren Kimballs Notizen. Seite über Seite war mit seiner sauberen Handschrift gefüllt. Spekulationen, Ideen,
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