Tea-Bag
verheiratet sein. Ob er es war oder Memed, der ihr ein Glas mit ätzender Säure ins Gesicht schüttete, weiß ich nicht. Eine Nachbarin hörte ein furchtbares Geschrei aus der Wohnung, und als sie ihre Tür öffnete, sah sie einen Mann die Treppe hinunter verschwinden. Aber ob es Memed oder Faruk war, haben wir nie erfahren. Beide stritten es ab, beide hatten ein Alibi. Fattis ganzes Gesicht war entstellt. Vor allem eine Wange und ein
Ohr. Sie verläßt das Haus nicht mehr, sie sitzt in einer Wohnung in Göteborg, die Gardinen sind vorgezogen, sie spricht mit keinem und sie wartet darauf, daß alles ein Ende nimmt. Ich habe ihr durch den Briefschlitz zugerufen, ich habe sie gebeten, mich hereinzulassen, aber sie sagt mir nur, ich soll verschwinden. Die einzige, die sie besucht, ist Mama. Papa spricht nie von ihr, und auch Faruk und Memed nicht.
Faruk ist jetzt wieder verheiratet. Keiner wurde je dafür bestraft, daß er Fattis Gesicht zerstört hat. Ich denke immer an meine Schwester, die in der dunklen Wohnung sitzt, und ich weiß, was auch geschieht, ich werde nicht zulassen, daß mein Leben so wird wie ihres. Sie wollte warten, bis sie jemanden traf, mit dem sie wirklich leben wollte, sie wollte selbst bestimmen. Ich kann meinen Vater nicht verstehen. Er sagt immer, wir wären von zu Hause weggegangen, um die Freiheit zu suchen. Aber wenn wir frei leben wollen, ist das auch verkehrt. Ich möchte wissen, was während der vier Tage passiert ist, die Fatti frei war. Ich glaube, die Freiheit, falls es sie gibt, ist immer riskant, ein Leben voller Gefahren, man wird verfolgt, ist immer auf der Flucht.
Ich weiß, daß Fatti in jenen Tagen jemanden getroffen hat, einen, der ihr die glänzende Mutter gab. Jeden Abend vor dem Einschlafen hoffe ich, spreche vielleicht ein Gebet, ich weiß es nicht genau, daß Fatti von dem Mann träumen darf, der ihr die Mutter gab, als sie ganz frei war und furchtbare Angst hatte. Vielleicht ist das der Grund, warum ich schreiben lernen will. Ich würde gern über diese vier Tage und Nächte schreiben, in denen meine Schwester frei und angsterfüllt war, ich würde gern über das schreiben, was damals geschah, über all das, was die Menschen, die auf der Straße an ihr vorbeigingen, nicht bemerkten.
Wenn ich mich nicht um Fatti kümmere, wer dann? Mama liebt sie, und Papa auf seine Weise sicher auch. Ich weiß nur, daß ich die Liebe verteidigen muß, wenn sie da ist und auch
wenn sie nicht da ist, und ich weiß ja, daß es sie auch für mich gibt, weil er da in dem Fußgängertunnel gewartet hat, und das hat er getan, weil er wußte, daß ich diesen Weg nehmen würde, wenn ich zur Straßenbahn ging.«
Es klopfte an die Tür. Jesper Humlin zuckte zusammen. Tea- Bag zog den Reißverschluß hoch, als würde sie einen Revolver ziehen. Tanja stand da wie versteinert. Aber Leyla erhob sich gemächlich, strich sich die Haare aus der verschwitzten Stirn und ging hinaus in den Flur. Als sie wiederkam, hatte sie einen jungen Mann an ihrer Seite. Er sah sich nervös im Zimmer um. - Das ist Torsten, sagte Leyla. Der aus dem Fußgängertunnel. Der aus meiner Erzählung.
Nasrins derzeitige Haushaltshilfe, Torsten Emanuel Rudin, war ein junger Mann, der schwer stotterte. Tea-Bag fing an zu kichern, als sie es merkte, Leyla geriet in Rage, und Tanja mußte eingreifen und Leyla daran hindern, sie zu schlagen.
- Bist du der Autor, der k-k-k-k…
- Nein, entgegnete Jesper Humlin scharf. Ich schreibe keine Kriminalromane.
- Ich meinte kurze Gedichte, sagte Torsten. Leyla hatte sich zu ihnen gestellt.
- Das ist mein Lehrer, sagte sie stolz. Er soll mir beibringen, wie ich eine große Schriftstellerin werde. Er kennt alle Wörter, die es gibt.
Dann setzte sie sich auf Torstens Schoß. Der Stuhl ächzte. Die Liebe hat viele Erscheinungsformen, dachte Jesper Humlin. Dieses Bild aber ist das schönste, das ich je gesehen habe.
- Ich bin von zu Hause weggelaufen, sagte Leyla. Torsten bekam einen Schreck. Seine Antwort versickerte in einem langgezogenen Stottern.
- Ich habe Angst, sagte Leyla. Aber ich habe das getan, was ich tun mußte. Jetzt wird mich meine Familie jagen, solange ich lebe.
Sie sah Jesper Humlin an.
- Sie werden glauben, daß du dafür verantwortlich bist.
Jesper Humlin erschrak.
- Warum sollten sie das glauben?
- Sie haben gesehen, wie du Mädchen die Wange tätschelst. Sie glauben, wir schicken einander heimliche Botschaften.
- Was du erzählt hast, hat mich sehr
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