Tea-Bag
erschüttert. Aber es hat mich auch davon überzeugt, daß du mit deinen Eltern reden mußt.
- Über was?
- Darüber, daß es jemanden wie Torsten gibt.
- Dann schlagen sie mich tot und sperren mich ein.
- Sie werden dich wohl kaum erst totschlagen und dann einsperren. Soweit ich es deiner Erzählung habe entnehmen können, war es niemand aus deiner Familie, der den furchtbaren Anschlag auf deine Schwester Fatti verübt hat.
- Die gibt es nicht.
Jesper Humlin blieb die Luft weg.
- Wie meinst du das?
- Natürlich gibt es sie. Aber manchmal ist es, als wäre sie weg. Als hätte sie alle Türen hinter sich zugemacht, sich das Seidentuch übers Gesicht gezogen und aufgehört zu sein. Obwohl sie noch lebt.
- Man kann tot sein, obwohl man lebt, und lebendig, obwohl man tot ist.
Es war Torsten, der sprach. Ohne zu stottern. Er lächelte. Leyla lächelte. Alle lächelten. Es war ein gemeinsamer Triumph.
Das Gespräch verebbte.
Tea-Bag und Tanja spülten das Geschirr ab, Leyla und Torsten hatten sich irgendwo in der Tiefe des großen Hauses
verkrümelt. Jesper Humlin ging hinunter in den Partyraum im Keller. An der Wand hing ein großer Hampelmann in Gestalt eines Pappolizisten. Ihm wurde mulmig. Es war elf Uhr abends. Er zögerte. Dann wählte er Andreas Nummer. Sie war sofort am Apparat.
- Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.
- Ich war gerade eingeschlafen. Wo bist du?
- Immer noch in Göteborg.
- Warum rufst du an?
- Ich will mit dir reden. Ich dachte, wir sind ein Paar.
- »Ich dachte, wir sind ein Paar«. Du klingst wie eine Figur aus einem alten schwedischen Film. Ich will Schluß machen.
- Ich komme ohne dich nicht zurecht.
- Du kommst ohne mich hervorragend zurecht. Und wenn nicht, ist das dein Problem. Wann kommst du nach Hause?
- Ich weiß nicht. Willst du nicht wissen, was hier passiert ist? - Ist jemand gestorben?
- Nein.
- Schwer verletzt?
- Nein.
- Dann will ich es nicht wissen. Ruf an, wenn du wieder da bist. Gute Nacht.
Andrea legte auf. Jesper Humlin starrte auf den Hampelmann. Das ist kein Polizist, dachte er. Das bin ich.
Er stieg die Treppe wieder hinauf. Küche und Wohnzimmer waren verlassen. Er begab sich ins Obergeschoß. Durch einen Türspalt sah er Tea-Bag und Tanja ausgestreckt auf einem breiten Doppelbett liegen. Sie hielten einander an der Hand. Tea-Bag hatte die Steppjacke abgelegt. Tanjas Mund bewegte sich, aber er konnte nicht hören, was sie sagte. Die Tür eines anderen Zimmers war geschlossen. Als er das Ohr daran legte, hörte er Torstens stammelnde Stimme. Er ging wieder hinunter ins Erdgeschoß.
Jetzt wäre der richtige Moment, um zu verschwinden, dachte er. Der Kurs ist vorbei, der Kurs, der nie ein Kurs wurde. Aber ich kann nicht abhauen, weil ich immer noch nicht das Ende von Tanjas Erzählung gehört habe. Und ich weiß nicht, ob der Affe, den ich manchmal zu sehen glaube, wirklich ist oder nicht.
Jesper Humlin schlummerte schließlich in einem Sessel ein. Sogleich fing er an zu träumen. Olof Lundin kam in rasender Geschwindigkeit über eine windige Bucht gerudert. Er selbst saß mit Tea-Bag zusammen in einem Ruderboot und angelte. Plötzlich wimmelte das Wasser von Schäferhunden, die aus allen Richtungen angeschwommen kamen. Er zuckte zusammen und wurde davon wach, daß einer der Schäferhunde ihn in die Schulter biß. Es war Tanja, die seinen Arm berührte. Verwirrt sah Jesper Humlin auf die Uhr. Viertel vor zwei. Er hatte nicht länger als zwanzig Minuten geschlafen. Hinter Tanja tauchte Tea-Bag auf.
- Es gibt sie, sagte Tanja.
- Wen gibt es?
- Fatti. Leylas Schwester. Ich weiß, wo sie wohnt. Willst du sie treffen?
- Leyla sagte, daß Fatti in ihrem Zimmer hinter vorgezogenen Gardinen sitzt, mit einem Seidentuch vor dem Gesicht, und daß sie sich weigert, Besuch zu empfangen. Warum sollte sie mich treffen wollen?
- Leyla besucht sie jeden Tag. Deswegen ist sie nie in der Schule. Sie kümmert sich um ihre Schwester.
- Warum sagt sie das dann nicht?
- Hast du keine Geheimnisse?
- Darum geht es nicht.
Bisher hatte nur Tanja gesprochen. Jetzt mischte sich Tea- Bag ein.
- Gehen wir?
- Wohin?
- Willst du Fatti treffen oder nicht?
Tanja bestellte ein Taxi. Während der Fahrt saßen sie stumm da. Leylas Schwester wohnte in einem Haus, das eingeklemmt zwischen einer steilen Felswand und der Ruine einer alten Ziegelfabrik lag. Sie stiegen aus. Jesper Humlin merkte, daß er fror.
- Wie kommen wir hier wieder weg?
Tanja holte ein paar
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