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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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war ihre letzte Hoffnung gewesen. Sie bettelte, sie bat sie um Hilfe, aber Nasrin redete nur weiter davon, wie gut es sein würde, einen so wohlhabenden Mann wie Memed in der Familie zu haben.
    In dieser Nacht, der Mittsommernacht, kroch ich wieder zu Fatti ins Bett. Sie sagte, sie würde weglaufen, aber ich glaubte keinen Moment daran, daß sie wirklich ausreißen würde. Wo sollte sie hin? Es kommt vor, daß Mädchen aus unseren Familien weglaufen. Aber ich habe noch nie von einer gehört, die nicht zurückgekommen ist. Sogar diejenigen, die sich das Leben nehmen, kommen zurück. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Bett leer. Fatti hatte sich davongemacht. Erst dachte ich, sie wäre nur auf der Toilette oder säße auf dem Balkon, in eine Decke gewickelt. Aber sie war weg. Ich spähte durch jeden Türspalt. Papa schnarchte, Mamas einer Fuß hing auf den Boden herunter. Fattis rote Jacke war weg. Sie hatte nicht viele Sachen mitgenommen. Als

einziges Gepäckstück war ihr kleiner schwarzer Rucksack verschwunden. Ich trat hinaus auf den Balkon. Es war noch früh, irgendwo zwitscherte ein Vogel, die Sonne glitt aus den Nebeln hervor und ich überlegte, wo Fatti geblieben war. Ich dachte, wenn sie weg ist, bin auch ich weg, denn Fatti und ich sind eigentlich ein und dieselbe Person. Fatti ist dünner als ich. Das ist der einzige Unterschied.
    Ich erinnere mich an diesen Mittsommertag, an dem ich außerhalb von Falun auf einem Balkon stand und begriff, daß Fatti verschwunden war. Ich dachte, von jetzt an würde alles anders werden. Aber vier Tage später fanden sie Fatti in Sala. Sie war auf einer Parkbank eingeschlafen, oder vielleicht war sie in Ohnmacht gefallen. Die Polizei brachte sie nach Hause, und als die Beamten gegangen waren, verprügelte Papa sie so, daß sie hinfiel und eine große Wunde im Nacken davontrug. Es war nicht nur Papa, der sie schlug, er war nicht der Schlimmste, er schlug sie nur dieses eine Mal. Mein Bruder reiste aus Göteborg an, und er nahm nicht einmal den Hut ab, bevor er Fatti den Arm auskugelte. Danach durfte Fatti nicht mehr
    ausgehen.
    Sie
    war
    neunzehn,
    sie
    wollte Krankenschwester werden und träumte davon, eine gute Orientierungsläuferin zu werden. Das habe ich nie verstanden, warum sie draußen im Wald herumlaufen und nach Markierungen suchen wollte, die auf unbegreiflichen Karten eingezeichnet waren.
    Aber nichts davon hat sie verwirklicht. Wir wohnten weiter im selben Zimmer und lagen nachts wach und flüsterten. Es war, als sei Fatti schon alt geworden. Ich betrachtete ihr Gesicht im Mondlicht, es sah aus wie Nasrins Gesicht, verschrumpelt, nach innen gekehrt. Sie sprach fortwährend von diesen Tagen, die sie auf der Flucht gewesen war, daß sie Angst gehabt hatte, aber zugleich das Gefühl, vollkommen frei zu sein. Damals war etwas passiert, von dem sie nichts erzählte. Unter dem Kissen hatte sie eine glänzende Mutter

versteckt. Manchmal, wenn sie glaubte, ich schliefe, holte sie die Mutter hervor und sah sie an. Jemand mußte sie ihr gegeben haben. Aber warum verschenkt man eine kleine Mutter? Was war es, was sie nicht erzählen wollte? Ich weiß es nicht. Von allen großen Rätseln, die Menschen mir aufgegeben haben, ist dies das größte, die glänzende Mutter, die Fatti unter ihrem Kopfkissen versteckte.
    Es war eine Zeit, die ich gern vergessen würde. Fatti hatte solche Angst vor Schlägen, daß sie sich in die Hosen machte, obwohl sie neunzehn Jahre alt war. Ich weiß noch, daß sie sagte: >Man wird mich schlachten, ich werde im Schlachthaus enden.< Damals verstand ich nicht, was sie meinte. Im folgenden Jahr wurde Fatti mit Faruk verheiratet, und sie zogen nach Hedemora. Nach zwei Jahren hatte Fatti immer noch kein Kind geboren. Da waren wir nach Göteborg gezogen, ich wollte sie besuchen, aber ich durfte nicht, ich konnte sie auch nicht anrufen, weil immer nur Faruk ans Telefon ging. Wenn er nicht zu Hause war, machte er ein Schloß ans Telefon. Dann passierte es wieder, sie versuchte wegzulaufen. Mitten im Winter lief sie aus dem Haus, in dem sie wohnten, nur im Nachthemd. Was passiert war, weiß ich nicht, aber ich glaube, Faruk schlug sie, weil sie nicht schwanger wurde. Nachdem Faruk sie wieder nach Hause geschleppt hatte, weigerte sie sich, mit ihm in einem Zimmer zu schlafen, und alles Zureden von Mama und von Nasrin half nichts. Es war ihr egal, ob sie geschlagen wurde. Sie hatte sich entschieden. Sie wollte nicht länger mit Faruk

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