Tea-Bag
gestalten, daß sie sich nicht nachprüfen ließen.
Die dritte Variante handelte von dem langen und keineswegs selbstverständlichen Weg zu einem Dasein als Schriftsteller. Er behauptete, er habe als Achtjähriger seinen ersten Roman geschrieben, ihn aber in demselben Jahr verbrannt, in dem er debütierte. In dieser Version breitete Jesper Humlin vor einem oft atemlos lauschenden Publikum eine Geschichte aus, die seinen tiefsten Wünschen entsprach. Aber die pure Wahrheit, daß das, was er sagte, nur erfunden war, würde er niemals einem anderen Menschen offenbaren.
Der Zug kam pünktlich an. Er nahm ein Taxi zur Bibliothek in Mölndal. Die Bibliothekarin, die ihn empfing, war jung.
- Was haben wir an Besuchern zu erwarten?
- Die Karten sind ausverkauft. Es werden hundertfünfzig Personen.
- Wer hat behauptet, die schwedische Volksbewegung wäre tot? sagte Jesper Humlin mit kleidsamer Bescheidenheit. An
einem dunklen, kalten Abend im Februar versammeln sich hundertfünfzig Personen, um einen einfachen Poeten zu hören. - Ein paar Gruppen haben sich angesagt.
- Was für Gruppen?
- Ich weiß es nicht. Da müssen Sie meine Kollegin fragen.
Später sollte Jesper Humlin es noch oft bedauern, daß er nicht weiter danach gefragt hatte, welche Gruppen im Anmarsch waren. Er hatte gedacht, es würde sich um irgendwelche Literaturzirkel oder vielleicht um einen Rentnerverein handeln. Doch als er um sieben Uhr auf das beleuchtete Podium des Hörsaals trat, nachdem der stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses ihn willkommen geheißen hatte, sah er weder Rentnervereine noch Literaturzirkel. Mitten in dem üblichen Publikum von erwartungsvollen Damen im gesetzten Alter registrierte er Elemente, die er nicht auf Anhieb einordnen konnte.
In der vordersten Reihe saß eine Gruppe von Männern mittleren Alters, die weder ihrer Kleidung nach noch im Aussehen dem Publikum glichen, das er gewöhnt war. Viele waren langhaarig und hatten Ringe in den Ohren, sie trugen Lederjacken und Jeans mit durchlöcherten Knien. Sofort war Jesper Humlin auf der Hut. Als er den Blick über die Reihen schweifen ließ, entdeckte er auch einige Menschen von dunkler Hautfarbe, die nebeneinandersaßen. Einwanderergruppen gehörten nicht gerade zu seinen treuesten Lesern. Abgesehen von einem Chinesen, der in Haparanda wohnte und ständig neue Briefe mit umständlichen und grundfalschen Analysen seiner Gedichte schrieb, hatte Jesper Humlin nie besonderen Kontakt zu denen gehabt, die man die neuen Schweden nannte. Aber hier in Mölndal saßen einige Repräsentanten dieser vage definierten Gruppe von Mitbürgern, noch dazu alle relativ jung. Jesper Humlin gab sich einen Ruck und hielt seinen Vortrag, den, der auf der Wirklichkeit basierte und einundzwanzig Minuten dauerte. Anschließend las er einige der Gedichte aus
der letzten Sammlung, die ihm am besten zum Vorlesen geeignet schienen. Während des Vertrags hatte er die Männer in den vordersten Reihen diskret observiert. Sie hatten aufmerksam zugehört, und er hatte mit wachsender Befriedigung gedacht, er wäre vielleicht gerade dabei, neue Leserschichten zu erobern. Aber als er anfing, seine Gedichte zu lesen, veränderte sich die Stimmung. Ein Mann in der ersten Reihe bewegte sich unruhig, er schaukelte vor und zurück, während er hörbar seufzte. Jesper Humlin geriet ins Schwitzen. Vor Nervosität übersprang er eine der Strophen, was das ohnehin schwer zu deutende Gedicht vollends unbegreiflich machte.
Die Männer ganz vorn starrten ihn an, als er geendet hatte. Keiner von ihnen applaudierte. Besorgt blätterte Jesper Humlin in dem Buch und entschloß sich rasch für eine dramatische Kursänderung. Er würde nur die allerkürzesten Gedichte lesen. Zugleich fragte er sich immer verzweifelter, wer diese Leute überhaupt waren, die in der vordersten Reihe saßen, diese Männer in zerrissenen Jeans und speckigen Lederjacken? Das andere fremde Element, die Gruppe der Einwanderer, betrachtete ihn schweigend und mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie applaudierten ohne Enthusiasmus. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich seiner bereits das deutliche Gefühl bemächtigt, irgend etwas sei völlig außer Kontrolle geraten, ohne daß er genau sagen konnte, was. Aber er erkannte, daß der literarische Abend, in dessen Zentrum er sich gerade befand, keinem anderen glich, den er je erlebt hatte.
Er las ein letztes Gedicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diejenigen, die er als sein gewöhnliches,
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