Tea-Bag
wie der letzte Dreck.
Der Fotograf versuchte sich zu verteidigen, aber sämtliche Männer aus der vordersten Reihe hatten sich jetzt um ihn geschart. Die Bibliothekarin versuchte zur Besonnenheit zu mahnen, während das Publikum vor der drohenden Schlägerei aus dem Raum flüchtete. Jesper Humlin war fassungslos. Niemals hätte er sich vorstellen können, daß seine Gedichte einen Tumult verursachen würden wie den, der sich jetzt vor seinen Augen abspielte.
Der Aufruhr endete genauso schnell wie er angefangen hatte. Plötzlich befand sich Jesper Humlin allein in dem Hörsaal. Vom Korridor draußen hörte er das ansteigende und abklingende Gemurmel aufgeregter Stimmen. Dann entdeckte er, daß trotz allem jemand außer ihm geblieben war, ein Mädchen mit dunkler Hautfarbe. Sie saß allein im Saal und streckte einen Arm in die Höhe. Aber was ihm am meisten auffiel, war ihr Lächeln. Noch nie in seinem Leben hatte Jesper Humlin ein solches Lächeln gesehen. Es war, als würden ihre weißen Zähne ein Licht aussenden.
- Möchten Sie etwas fragen?
- Haben Sie noch nie etwas über jemanden wie mich geschrieben?
Gibt es denn keine einfachen Fragen mehr, dachte Jesper Humlin verzweifelt.
- Ich fürchte, ich verstehe nicht recht, was Sie meinen. Das Mädchen sprach gebrochen, aber doch klar und deutlich Schwedisch.
- Wir, die hierhergekommen sind. Wir, die nicht hier geboren sind.
- Ich habe mir wohl immer vorgestellt, daß Poesie etwas Grenzüberschreitendes ist.
Jesper Humlin hörte selbst, wie hohl das klang. Wie eins von meinen Gedichten, dachte er. Das Mädchen stand auf.
- Danke für die Antwort.
- Ich beantworte gern weitere Fragen.
- Ich habe keine mehr.
- Darf ich Sie selber etwas fragen?
- Ich habe keine Gedichte geschrieben.
- Wie heißen Sie?
- Tea-Bag.
- Tea-Bag?
- Tea-Bag.
- Woher kommen Sie?
Das Mädchen lächelte weiterhin. Aber die letzte von Jesper Humlins Fragen blieb unbeantwortet. Er sah ihr nach, als sie auf den Korridor hinaus verschwand, wo immer noch hitzige Diskussionen geführt wurden.
Jesper Humlin benutzte einen Hinterausgang und verließ Mölndal mit dem wartenden Taxi. Er hatte kein einziges Buch signiert und sich auch nicht von den Bibliothekarinnen verabschiedet. Er saß auf dem Rücksitz und sah zum Fenster hinaus. Ein See mit schwarzem Wasser glitzerte zwischen Bäumen und Wohnhäusern. Er fröstelte. Sein Kopf war leer. Dann merkte er, daß sich trotz allem ein Gedanke in sein
Bewußtsein einschlich. Das Mädchen, das allein mit erhobener Hand und seinem schönen Lächeln in dem Hörsaal zurückgeblieben war. Über sie könnte ich vielleicht immerhin ein Gedicht schreiben, dachte er. Aber nicht einmal das ist sicher.
4
A ls
Jesper Humlin am nächsten Tag in seinem Hotel in Göteborg aufwachte, fiel ihm plötzlich ein, daß ein alter Freund von ihm in jenem Vorort wohnte, der Stensgården hieß. Pelle Törnblom, ein Seemann, der an Land gegangen war und draußen in Stensgården einen Boxklub eröffnet hatte, und Jesper Humlin hatten als junge Leute einige Jahre lang einen intensiven Umgang gepflegt. Was sie damals verband, war, daß Pelle Törnblom ebenfalls literarische Ambitionen gehegt hatte. Im Laufe der Jahre hatten sie gelegentlich miteinander telefoniert und vereinzelte Postkarten gewechselt. Vergeblich versuchte Jesper Humlin sich zu erinnern, wann sie sich zuletzt gesehen hatten. Das einzige, was er mit Sicherheit wußte, war, daß Pelle Törnblom damals auf einem Schlepper gearbeitet hatte, der Floßrahmen entlang der norrländischen Küste bugsierte.
Er
beschloß,
Pelle
Törnbloms
Telefonnummer herauszusuchen. Aber erst blätterte er besorgt die Zeitung durch. Er fand nichts. Das beruhigte ihn für einen Augenblick. Aber er fürchtete, daß es sich nur um eine Verzögerung handelte. Am folgenden Tag würde der Skandal dann publik sein. Er überlegte, ob er die Bibliothekarin anrufen sollte, die für das Erscheinen dieser eigentümlichen Gruppe von Männern verantwortlich war, die in der ersten Reihe gesessen und ihn angestarrt hatten und dann beinahe Amok gelaufen wären. Aber was sollte er ihr eigentlich sagen? Ihre Absichten waren durchaus ehrenwert. Sie hatte viel Mühe darauf verwandt, ein Publikum anzulocken, das sich sonst nicht um Bücher scherte. Das Telefon klingelte. Es war Olof Lundin. Jesper Humlin
- Hier ist Olof. Wo bist du?
Früher hat man gefragt, wie es den Leuten geht, dachte Jesper Humlin im stillen. Heutzutage fragt man, wo sie
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