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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Gesicht dasaß.

Jesper Humlin erwartete, daß das Geschiebe zwischen den Stühlen wieder anfangen würde. Aber niemand kam. Tanja war offenbar allein.
    - Woher kommst du?
    - Sie kommt aus Rußland, antwortete Leyla.
    - Du willst hier also teilnehmen und schreiben lernen? Um deine Geschichten zu erzählen?
    - Sie hat mehr erlebt als alle anderen, sagte Leyla. Aber sie sagt nicht sehr viel.
    Das erwies sich als eine wahrhaft treffende Beobachtung. Im Laufe des Abends äußerte Tanja kein einziges Wort. Ab und zu betrachtete Jesper Humlin sie insgeheim. Er schätzte, daß sie das älteste von den Mädchen war, vielleicht fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Sie war das genaue Gegenteil von Leyla, schlank und mit einem ovalen, schönen Gesicht und braunen Haaren, die auf die Schultern herabfielen. Sie war angespannt und starrte unentwegt auf einen Punkt in weiter Ferne. Jesper Humlin mußte sich eingestehen, daß er selbst unter Aufbietung all seiner Phantasie und all seines Einfühlungsvermögens nicht die geringste Ahnung hatte, woran das Mädchen dachte. Er merkte auch, mit der üblichen Mischung aus Besorgnis und Verlockung, daß er sich von ihr immer stärker angezogen fühlte.
    Neben Tanja saß das Mädchen, das er schon in Mölndal getroffen hatte, das Tea-Bag hieß und ihm die Frage gestellt hatte, die vielleicht der eigentliche Grund dafür war, daß er jetzt nach Stensgården zurückkehrte. Damals hatte sie den Eindruck erweckt, freimütig und stark zu sein. Jetzt wirkte sie gehemmt und unsicher und wich seinem Blick aus.
    Plötzlich verstummte das Gemurmel in dem Raum. Jesper Humlin wurde klar, daß der Dirigent erschienen war, und der Dirigent war er selbst. Jetzt mußte er handeln. Er wandte sich an Leyla.
    - Warum willst du eigentlich schreiben lernen?

- Ich will ein Soapstar werden. Jesper Humlin geriet aus dem Konzept.
    - Ein Soapstar?
    - Ich will im Fernsehen sein. In einer Serie, die zehn Jahre lang jeden Tag läuft.
    - Ich glaube kaum, daß ich dir dabei helfen kann. Mit Soaps werden wir uns hier weniger befassen.
    Jesper Humlin wußte nicht, wie er fortfahren sollte. Die ganze Situation erschien ihm absurd. Das Gemurmel im Saal hatte wieder eingesetzt. Vor sich hatte er Leyla, die schwitzte und Soapstar werden wollte, Tanja mit ihrem abgewandten Gesicht und Tea-Bag, die er nicht wiedererkannte. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, zeigte er auf die Schreibblöcke, die vor den Mädchen lagen. Jeder trug, wie er bemerkte, den Stempel »Törnbloms Boxklub«.
    - Ich will, daß ihr zwei Dinge schreibt, begann er und wurde sofort von jemandem ganz hinten im Saal unterbrochen, der ihm auf gebrochenem Schwedisch befahl, lauter zu sprechen.
    - Eigentlich ist das kein Vortrag, rief er. Aber ich will, daß die Mädchen die Antwort auf zwei Fragen niederschreiben, die ich ihnen jetzt stelle: Warum wollt ihr hier teilnehmen und schreiben lernen? Das ist die erste Frage. Die zweite Frage lautet: Was erträumt ihr euch für die Zukunft?
    Ein erwartungsvolles und zugleich erstauntes Raunen breitete sich im Saal aus. Pelle Törnblom hatte sich unterdessen mit einem Glas Wasser zum Tisch durchgeschlagen.
    - Kann man hier vielleicht ein Fenster aufmachen? Es ist furchtbar warm.
    - Wir haben so viele Einbrüche gehabt. Ich war gezwungen, die Fenster zuzunageln.
    - Ich ersticke hier drinnen!
    - Du hast zuviel an. Aber es läuft gut. Sehr gut.
    - Es geht in die Binsen. Ich werde noch wahnsinnig. Wenn wir hier keine Luft reinbekommen, werde ich ohnmächtig. Ich

will nicht ohnmächtig werden. Eigentlich sollte ich dich zusammenschlagen.
    - Das kannst du nicht, weil ich stärker bin als du. Es läuft gut. Sehr gut.
    Pelle Törnblom kehrte zur Tür zurück. Die Mädchen schrieben. Was mache ich danach, dachte Jesper Humlin und spürte seine Verzweiflung wachsen. Er beschloß, überhaupt nichts zu machen. Nur die Zettel einsammeln, ihre Antworten lesen und dann jede einzelne bitten, bis zum nächsten Mal, falls es ein nächstes Mal geben würde, eine kurze Geschichte darüber zu schreiben, wie sie diesen Abend erlebt hatten. Anschließend könnte er diesen stickigen Raum verlassen und mit etwas Glück den letzten Zug oder die letzte Maschine nach Stockholm erreichen. Er war fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren. Er ließ den Blick über all die Menschen schweifen, die dasaßen und ihn anschauten. Eine Frau, die ein Kind stillte, nickte ihm aufmunternd zu. Jesper Humlin nickte freundlich zurück. Dann sammelte er die

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