Tea-Bag
Zettel ein. Er wollte nicht vorlesen, was jede einzelne geschrieben hatte. Um sich zu vergewissern, daß er nicht auf wilde Proteste stoßen würde, wandte er sich flüsternd an Leyla.
- Ich will, daß du zu allen Menschen hier sagst, daß das, was auf den Zetteln steht, etwas Vertrauliches zwischen euch und mir ist. Ich will nicht laut verkünden, was ihr geantwortet habt. Erschrocken sah sie ihn an.
- Das geht nicht. Außerdem kann ich nicht alle Sprachen, die sie sprechen.
- Sie müssen doch ein bißchen Schwedisch verstehen?
- Das ist nicht sicher.
- Warum kannst du nicht erklären, daß das, was auf den Zetteln steht, eine Angelegenheit unter uns ist?
- Meine Brüder werden glauben, daß ich dir eine geheime Botschaft schicke.
- Warum um Himmels willen solltest du das tun?
- Das können sie nicht wissen.
- Ich kann keinen Schreibkurs mit euch abhalten, wenn alle immerzu wissen sollen, worüber wir sprechen. Schreiben heißt, aus sich selbst heraus Geschichten zu erzählen. Es geht darum, seine innersten Gedanken zu offenbaren.
Leyla überlegte.
- Du mußt nicht vorlesen, was wir geschrieben haben.
Aber wir müssen unsere Zettel zurückbekommen, damit wir sie vorzeigen können, wenn wir nach Hause kommen. Außer Tanja natürlich.
- Warum sie nicht?
- Sie hat keine Familie. Wir sind ihre Familie. Jesper Humlin sah ein, daß er nicht weiterkommen würde. Er erhob sich.
- Ich werde nicht verraten, was die Mädchen geschrieben haben, rief er.
Sofort erhob sich ein mißbilligendes Murren im Raum.
- Aber sie dürfen natürlich behalten, was sie geschrieben haben.
Langsam verstummten die Proteste. Jesper Humlin setzte sich wieder hin, warf Leyla einen dankbaren Blick zu und nahm sich die Zettel vor. Zuerst sah er den von Tanja an. Der Zettel war leer, bis auf eine kleine Zeichnung von einem Herzen, das zu bluten schien. Nichts weiter. Lange betrachtete Jesper Humlin das Bild von dem blutenden oder vielleicht weinenden Herzen. Dann schaute er Tanja an. Aber sie erwiderte seinen Blick nicht, sie starrte weiter auf einen Punkt, der sich weit jenseits der Wände in dem stickigen Raum zu befinden schien. Er faltete den Zettel zusammen, stellte fest, daß ihre kleine Zeichnung ihn berührte, und legte ihn wieder vor sie hin.
Der nächste Zettel war von Leyla. Sie wollte Schriftstellerin werden, um davon zu erzählen, wie es war, als Flüchtling in einem fremden Land wie Schweden zu leben. Aber sie hatte auch einen offenherzigen Zusatz gemacht. Ich will schreiben
lernen, um dünn zu werden. Jesper Humlin dachte, es sei jedenfalls die aufrichtigste Antwort auf die Frage, aus welcher Quelle ein Schriftstellertraum entsprungen war, die er je gehört hatte. Auf die Frage, was sie sich für die Zukunft erträumte, hatte sie geantwortet, sie wolle Soapstar oder Moderatorin einer Fernsehsendung werden.
Der letzte Zettel war von Tea-Bag. Ich will davon erzählen, was am Strand geschah. Was die Zukunft anging, hatte sie zu Jesper Humlins Erstaunen ebenfalls geschrieben, sie wolle Fernsehmoderatorin werden.
Die Antworten, die er erhalten hatte, waren ebenso klärend wie verwirrend. In seinem immer erschöpfteren Kopf suchte er nach einer guten Möglichkeit, den Abend zu beenden. Er sah die Mädchen an. Und dann alle Angehörigen, die immer ungeduldiger darauf warteten, daß er etwas sagte. Jetzt werde ich lügen, dachte er, während er aufstand. Ich werde lügen, und ich werde es überzeugend machen. Nicht aus Bosheit und Verachtung, sondern weil dieses ganze Projekt bereits gescheitert ist, ehe ich es auch nur geschafft habe, das Boot ins Wasser zu lassen.
- Das soll für heute abend erst einmal genügen. Nun haben wir uns getroffen, ihr und ich, und ich weiß jetzt etwas mehr darüber, was ihr euch von dieser Sache versprecht. Ihr werdet benachrichtigt werden, wann wir uns das nächste Mal treffen. Danke für heute abend.
Einen Moment lang herrschte ratloses Schweigen. Dann brach der Applaus los. Jesper Humlin fühlte, wie sich eine große Erleichterung in ihm ausbreitete. Bald würde es überstanden sein. Er ging auf den Ausgang zu und drückte unterwegs viele ausgestreckte Hände. Und da geschah es, daß ein Mädchen von etwa siebzehn Jahren dastand und ihn anlächelte und er, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein, ihre Wange tätschelte. Dann wurde alles schwarz.
Jetzt lag er in einem Krankenhaus auf einer Trage, und die linke Wange war stark geschwollen. Die Schmerzen kamen und gingen in Wellen. Ein
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