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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Er legte auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
    Noch immer weigerte sie sich aufzuwachen, als er ihre Schulter berührte. Er saß auf der Bettkante und versuchte zu verstehen, was eigentlich vorging. Wer war sie, warum war sie gekommen? Was war das für ein Affe, von dem sie gesprochen hatte? Er schaute auf die Steppjacke und ihre Hose. Er verspürte den Impuls, behutsam die Decke zu lüpfen und nachzusehen, ob sie nackt war. Doch er widerstand der Versuchung.
    Er durchsuchte ihre Taschen. Als erstes fiel ihm auf, daß sich weder Schlüssel noch Geld darin befanden. Wie ein Mensch ohne Schlüssel oder Geld existieren konnte, war ihm ein absolutes Rätsel. In der Innentasche der Jacke fand er eine kleine Plastikhülle. Darin steckte ein sudanesischer Paß, ausgestellt auf Florence Kanimane. Das Foto darin zeigte Tea- Bag. Als Jesper Humlin den Paß durchblätterte, fand er keinerlei Stempel. Schon gar kein Visum für Schweden. Aber sie hatte doch von Ghana und Togo gesprochen? Und von Kasachstan? Und behauptet, sie wäre Kurdin!
    Das einzige, was er in dem Paß fand, war ein totes, vertrocknetes und unangenehm großes Insekt, und dazu eine gepreßte gelbe Blume. Sie erinnerte an ein Herz, ein plattgedrücktes Herz. Er dachte an das Herz, das die stumme Tanja gezeichnet hatte. Außer dem Paß befand sich eine abgegriffene, beschädigte Fotografie in der Plastikhülle. Sie zeigte eine afrikanische Familie, einen Mann, eine Frau und sechs Kinder. Das Bild war im Freien aufgenommen, mit einer Hütte im Hintergrund. Da es keine Schatten gab, muß die Sonne sehr hoch am Himmel gestanden haben, als die Aufnahme gemacht wurde. Sie war so verschwommen, daß

Jesper Humlin, obwohl er im Zimmer Licht gemacht hatte, nicht erkennen konnte, ob eins von den Kindern Tea-Bag war. Oder Taita. Oder Florence, wie der jüngste Beitrag auf ihrer Namensliste lautete.
    Außer dem Paß und der Fotografie enthielt die Plastikhülle ein
    zusammengefaltetes,
    aus
    einem
    Notizblock herausgerissenes Papier. Darauf war »Schweden« und der Name »Per« zu lesen. Nichts weiter. Als er das Papier gegen das Licht hielt, entdeckte er ein Wasserzeichen, das »Madrid« lautete. Er runzelte die Stirn. Was war das eigentlich für eine, die ihm erst in Mölndal eine Frage gestellt hatte, dann in seinem Treppenhaus gewesen war und jetzt in seinem Bett lag? Ein weiteres Mal durchsuchte er ihre Sachen, ohne etwas anderes zu finden als Sand. Es ist eine Geschichte, die ich vor mir habe, dachte er. Ein Mädchen, das sich vermutlich illegal in Schweden befindet und von einem Affen spricht, ein Mädchen, über dessen Namen ich nichts Sicheres weiß und das weder Geld noch Schlüssel in den Taschen hat. Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Sie schlief, tief und ruhig. Behutsam strich er ihr mit den Fingerkuppen über die Wange. Sie war sehr warm. Er sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor sechs. Eine Stunde konnte er sie noch schlafen lassen. Dann mußte er sie wecken und aus der Wohnung schaffen.
    Das Telefon klingelte. Er ging ins Schlafzimmer und wartete, bis der Anrufbeantworter sich einschaltete. Es war Viktor Leander. Ich wollte nur hören, was du so machst. Wir sollten uns treffen. Ruf mich an. Oder geh ans Telefon, falls du zu Hause bist. Ich glaube, du bist da.
    Jesper Humlin nahm nicht ab. Er setzte sich auf einen Stuhl und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, plötzlich zu bemerken, daß einem ein Affe auf dem Rücken herumklettert. Seine Phantasie versagte. Er spürte keinen Affen auf seinem Rücken.

Er hörte sie nicht aus dem Schlafzimmer kommen. Sie bewegte sich vollständig lautlos.
    - Warum hast du dich hingelegt?
    - Ich war müde. Ich gehe jetzt.
    - Wer bist du eigentlich?
    - Tea-Bag. Er zögerte.
    - Während du schliefst, ist dein Paß aus der Tasche gerutscht. Ich konnte nicht umhin zu sehen, daß du darin Florence heißt.
    Sie lachte laut auf, als hätte er etwas Lustiges gesagt.
    - Er ist gefälscht, sagte sie fröhlich.
    - Wo hast du ihn her?
    - Ich habe ihn im Lager gekauft. Am Strand.
    - Was für ein Lager? Was für ein Strand?
    Das war der Moment, in dem sie zu erzählen begann. Wie sie sich an der spanischen Küste an Land gerettet hatte und dort von bewaffneten Wachen und von Schäferhunden eingefangen worden war, die aussahen wie Albinos …
    »Sogar die Zungen, die ihnen aus dem Maul hingen, waren weiß. Wie viel Zeit ich in diesem Lager verbracht habe, weiß ich nicht. Vielleicht waren es viele Jahre, vielleicht wurde ich

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