Tea-Bag
verloren, als ich aus dem Meer stieg, aber ich zählte die Sekunden und Minuten mit Daumen und Zeigefinger am Puls des
Handgelenks -, kletterte ich über den Zaun und verschwand in der Dunkelheit. Ich folgte dem ersten Pfad, auf den ich traf, dann bog ich auf einen anderen Pfad ab, geradeso als hätte ich einen inneren Kompaß, der mich in bestimmte Richtungen lenkte, und ich ging durch die Dunkelheit, ohne zu wissen, was mich erwartete, wenn es Morgen wurde. Mehrmals rutschte ich aus und fiel hin, Äste und dornige Büsche rissen Wunden in mein Gesicht, aber ich ging weiter, immerzu ging ich weiter, mit Kurs auf Schweden und die Erinnerung an den langen, schwankenden Mann, der als erster Interesse für meine Geschichte gezeigt hatte.
Als die Sonne nach der ersten Nacht aufging, war ich sehr erschöpft. Ich setzte mich auf einen Felsen. Ich erinnere mich nur noch, daß ich sehr durstig war. Ich entdeckte, daß ich mich in der Nacht durch eine dornige Berglandschaft mit steilen Abhängen geschlagen hatte, die der Tod hätten sein können, dem ich auf dem Meer entkommen war. Weit weg auf einem Feld sah ich Menschen, die Sonne wurde von einer Autoscheibe reflektiert, und ich machte mich auf den Weg nach Norden. Stets mied ich dabei die Nähe der Menschen. Ich lebte von Früchten und Nüssen, ich trank Regenwasser, das ich mit den Händen aus Felsspalten schöpfte, und ich hielt Kurs in Richtung Norden. So ging es weiter, Tag und Nacht. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, bestimmte ich die Richtung und lief weiter gen Norden.
Wie lange ich unterwegs war, weiß ich nicht. Aber eines Tages konnte ich nicht mehr. Mitten in einem Schritt stockte ich und sank zu Boden. Obwohl ich die Füße fest gegen die Erde gestemmt hatte, nach dem Vorbild meines Vaters, war ich in diesem Augenblick nahe daran aufzugeben, mich einfach hinzulegen und zu verwittern, bis ich eins wäre mit der verdorrten Erde. Ob ich damals seit einer Woche oder einem Jahr unterwegs war, wußte ich nicht. Nur, daß ich herausfinden mußte, wo ich mich befand. Ich zwang mich zum
Aufstehen und lief weiter, bis ich zu einer kleinen spanischen Stadt kam, die vereinzelt in einer endlosen Ebene dalag.
Diesmal ging ich hinein. Ich war in der schlimmsten Mittagshitze angekommen. Die Stadt lag da wie ein vertrockneter Kadaver. Auf einem Schild las ich, daß die Stadt >Alameda de Cervera< hieß. Auf einem anderen Schild stand >Toledo 111 Kilometer<. Die Fensterläden an den Fassaden der weißen Häuser waren geschlossen, ein paar Hunde lagen hechelnd im Schatten, aber nirgends sah ich Menschen. Ich ging durch die leeren Straßen, geblendet von dem starken Licht, und ich fand einen Laden, der offen war. Oder vielleicht war er auch geschlossen, aber die Tür war angelehnt, und ich betrat den halbdunklen Raum.
In einer Ecke schlief ein Mann auf einer Matratze. Ich versuchte mich geräuschlos zu bewegen, ich hatte meine zerfetzten Schuhe ausgezogen, und ich weiß noch, wie kühl sich der Steinboden unter den Fußsohlen anfühlte. Ich hielt die Schuhe in der Hand und entdeckte, daß ich in einen Schuhladen gekommen war. Die Regale waren voll von Schuhen. An einer Wand fand ich, was ich suchte, eine Karte. Mit dem Finger fuhr ich bis >Alameda de Cervera< und dann weiter nach >Toledo<, und ich erkannte, daß ich mich nur ein kleines Stück vom Lager entfernt hatte, obwohl ich seit einer Ewigkeit unterwegs war. Da drinnen im Dunkel fing ich an zu weinen, lautlos, damit der schlafende Mann nicht aufwachte.
Was ich danach machte, kann ich mir nur als undeutliche Erinnerungsbilder ins Gedächtnis rufen. Die Hitze, die Hunde, das grelle weiße Licht, das von den Hauswänden reflektiert wurde. Ich ging in eine Kirche; dort war es kühl, und ich trank von dem abgestandenen Wasser im Taufbecken. Dann brach ich die Sparbüchse an einem Tisch auf, auf dem Postkarten zum Verkauf lagen. Für das Geld kaufte ich mir eine Busfahrkarte.
Toledo, sagte ich zu dem Fahrer, der mit Ekel und Lust auf meine schwarze Haut schaute.
Doch mein Lächeln verlockte ihn nicht. Irgendwo in mir wurde in diesem Augenblick eine Wut über diese trägen europäischen Männer geboren, die nicht imstande waren, meine Schönheit zu würdigen und sich davon verlocken zu lassen. Das Geld reichte gerade für die Fahrkarte. An die Fahrt habe ich keine Erinnerung. Ich schlief und wachte davon auf, daß der Fahrer unsanft an meiner Schulter rüttelte und sagte, wir wären angekommen. Der Bus parkte in einer
Weitere Kostenlose Bücher