Tea-Bag
eigentlich dort geboren, der Strand vor dem Zaun war vielleicht das Laken, auf dem mein neugeborener Körper zum ersten Mal Boden und Erde und Sand spürte. Ich weiß nicht, wie lange ich dort war, und ich will es auch gar nicht wissen. Aber zuletzt, an einem Morgen, als meine Verzweiflung größer denn je war, ging ich hinunter zum Zaun und warf alle Steine weg, sah, wie sie sich wie ein Fächer aus verlorenen Tagen und Nächten ausbreiteten und dann von den Wellen weggespült wurden.
Ich hatte jede Hoffnung aufgegeben, jemals das Lager verlassen zu dürfen. Dieser Strand, an dem ich an Land gekrochen bin, war nicht mehr die Freiheit, er war der
Brückenkopf zum Tod, und ich wartete nur darauf, daß jemand seinen Finger auf mich richten und mich dann zwingen würde, wieder ins Wasser hinauszuwaten und mich mit denen zu vereinen, die schon tot waren und am Meeresgrund lagen. Jeder Tag war wie ein ausgedehntes Warten zwischen zwei Herzschlägen. Aber plötzlich stand ein sehr großer und dünner Mann vor mir, ein Mann, der schwankte wie eine hochgewachsene Palme, und da hörte ich zum ersten Mal von Schweden und beschloß hinzufahren, weil es dort Menschen gab, die sich vielleicht dafür interessierten, daß ich, gerade ich und niemand anderes, tatsächlich existierte.
Im Lager ging ein dauernder geheimnisvoller Handel mit versteckt gehaltenen Pässen vor sich, von denen manche mehrmals hintereinander gefälscht worden waren. Von einem älteren Mann aus dem Sudan, der den kalten Wind des Todes näherkommen fühlte und einsah, daß er das Lager nicht lebend verlassen würde, tauschte ich den Paß gegen das Versprechen ein, jedes Jahr, einmal im Monat, solange ich lebe, in eine Kirche oder eine Moschee oder einen anderen Tempel zu gehen, und genau eine Minute an ihn zu denken. Das war es, was er für den Paß haben wollte, eine Erinnerung daran, daß es ihn einmal gegeben hatte, obwohl er alles in dem Land, aus dem er geflohen war, zurückgelassen hatte. Die Fotografie hatte ich in einer wasserdichten Wachstuchtasche bei mir, als ich aus dem Meer stieg, und mit Hilfe eines kommunistischen Flüchtlings aus Malaysia, der die Kunst beherrschte, wie echt aussehende Stempel herzustellen, obwohl seine Hilfsmittel im Lager fast gleich Null waren, wurde die Fotografie des alten Mannes entfernt, und mein Gesicht, jetzt mit dem Namen Florence versehen, durfte seinen Platz einnehmen. Es war wie ein heiliges Ritual, einem Paß mit dem Bild eines sterbenden alten Mannes ein neues Leben zu geben. Ich brachte meinen eigenen Geist in den Paß ein und half der Seele des alten Mannes, sich zu befreien. Nie werde ich den Augenblick
vergessen, als der Paß verwandelt wurde. Es ist und bleibt einer der entscheidenden Momente meines Lebens.
Auf einer zerfledderten Karte, die einem Marokkaner gehörte, der bereits zum neunten Mal versuchte, nach Europa vorzudringen, um zu einem Bruder zu gelangen, der sich in einer Stadt irgendwo im nördlichen Deutschland befand, machte ich Schweden ausfindig. Ich bekam eine Ahnung davon, daß es eine lange Reise werden würde, aber nicht, wie lang. Vielleicht erkannte ich, daß die Reise unmöglich war, wollte es aber nicht akzeptieren. Ich weiß nicht. Da ich mich nie von irgendwelchen Erwartungen beherrschen ließ, beschloß ich, vorerst nur zu versuchen, aus dem Lager herauszukommen, ohne gleich wieder eingefangen zu werden.
Ich freundete mich mit ein paar jungen Männern aus dem Irak an, die ihre Flucht als blinde Passagiere in einem Laderaum begonnen hatten, der nach verfaultem Fisch stank. Der Laderaum befand sich in einem spanischen Fischkutter, der in verbotenen türkischen Gewässern fischte. Sie schafften es bis zum Hafen von Malaga, wo man sie entdeckte und sofort unsanft ins Lager beförderte. Später konstruierten sie heimlich eine Leiter aus Tauenden, Ästen und Plastikstücken, die sie von den Tischen in der Kantine abbrachen. Als ich zu ihnen stieß, verboten sie mir mitzukommen, sie wollten ihren Ausbruch alleine machen und meinten, ein schwarzes Mädchen würde es nicht viele Stunden auf der Flucht in Spanien schaffen. Aber meine Einsamkeit erweichte sie, und sie erlaubten mir, die Leiter zu benutzen, wenn ich eine Stunde wartete, nachdem sie über den Zaun geklettert waren, ehe ich mich dann selber davonmachte.
In einer dunklen Nacht ohne Mondschein verschwanden die drei irakischen jungen Männer. Nachdem genau eine Stunde vergangen war - ich hatte keine Uhr, die hatte ich
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