Tea-Bag
dem die Alte Laurinda begriff, daß sie am Ziel waren, und sich zum Sterben niederlegte.
Später waren sie getrennt worden, die Geschwister hatte man in Obhut genommen und auch um Laurinda wollte man sich kümmern, aber sie flüchtete, sie machte sich einfach aus
dem Staub. Sie war eine Straße entlanggegangen, die durch braune Äcker führte, gelegentlich hatte jemand angehalten und sie mitfahren lassen, aber jedesmal hatte ihr Schweigen so beängstigend gewirkt, daß der Fahrer bald wieder hielt und sie absetzte. Sie war weitergegangen, jeder Schritt war ein Kampf mit der Erde, die bereits an ihr zog, doch sie war nicht stehengeblieben, bis sie den schwarzen Müllsack am Straßenrand entdeckte. Er mußte von einer Ladefläche gerutscht sein, oder vielleicht hatte man ihn abgeworfen.
Der Sack war mit gelben Plastikfröschen gefüllt, der ganze Graben war voll von diesen Fröschen. Erst hatte sie gedacht, sie wären lebendig, aber so steif gefroren, daß sie außerstande waren wegzuhüpfen. Dann hatte sie einen in die Hand genommen, aber da war kein Herzschlag zu spüren gewesen, nur die starren Augen, die sie anglotzten, und sie hatte ihn weggeworfen, da sie fürchtete, es könnte in diesem Land giftige Frösche geben. Aber die Frösche hatten sich nicht gerührt, erneut hatte sie einen in die Hand genommen, und dabei entdeckte sie das Preisschild, das an seinem Bauch klebte. Sie hatte den Sack geschultert, und als sie in die nächste Stadt kam, schüttete sie die Frösche auf einem Gehsteig aus und wartete. Ob sie darauf wartete, daß sie zu hüpfen anfingen oder daß jemand einen der Frösche kaufen würde, wußte sie nicht, und es war auch nicht wichtig.
Da stand sie, als ich vorbeikam. Als ich die Frösche und Laurinda sah, die an der Hauswand hockte und über ihre toten oder steifgefrorenen Plastikfrösche wachte, wußte ich, daß ich stehenbleiben mußte. Ich fragte, ob sie meinen Affen gesehen hätte, aber sie schüttelte nur den Kopf, und ich blieb da, und sie erzählte ihre Geschichte. Ich erinnere mich noch an ihre Stimme. Ihre Stimme war die Stimme der Erde, der Erde und des Schmerzes, eine Stimme, die heiser ist und über große Entfernungen zu uns singt.
Wann es geschah, weiß ich nicht mehr, es kann gestern gewesen sein oder vor tausend Jahren, eigentlich spielt es auch keine Rolle. Aber heute, als ich aufwachte, erinnerte ich mich an das, was sie mir erzählt hatte, und daß diese Erinnerung, die so lange weg war, nun endlich zurückgekommen ist, ist das ‘Wichtigste, was mir heute passiert ist.«
Tea-Bag verstummte und setzte sich. Das Papier, das sie in der Hand hielt, faltete sie zusammen und legte es vor ihn auf den Tisch. Darauf stand kein einziges Wort. Alle im Raum blieben stumm und regungslos. Jesper Humlin dachte, daß alle dort Versammelten das gleiche Erlebnis gehabt hatten wie er selbst, daß etwas Umwälzendes geschehen war, daß Tea-Bags Erzählung den Raum in ganz neue Farben getaucht hatte. Es geht tiefer, dachte er, so tief, daß ich es fast nicht zu fassen vermag, was hier geschieht.
In dieser Stille, wie nach einem Erdbeben, erhob sich Leyla. Jesper Humlins erster Gedanke war, daß sie seit ihrem letzten Treffen noch mehr zugenommen hatte. Trotzdem war sie wie von einem Schimmern umgeben. Und sie lächelte.
Wie ein Staffelstab, so schien es, hatte Tea-Bags großes Lächeln zwischen den Mädchen zu wandern begonnen. Jetzt, in dem Moment, als Leyla aufstand, war es, als hätte sie ihn übernommen.
15
A us Leyla kamen Worte hervorgesprudelt. Tastende Rinnsale,
die aus einer fernen Felsspalte sickerten und sich zu einer immer mächtigeren Flut vereinten. Jesper Humlin fragte sich, ob es ihr Lächeln war, aus dem Tea-Bag, Tanja und Leyla ihre eigentliche Inspiration und Kraft schöpften, nicht aus den Papieren und Stiften, die er zu bieten hatte. Leyla sprach mit leiser Stimme. Jesper Humlin beugte sich vor, um jedes Wort mitzubekommen von dem, was ihr an diesem frostigen Spätwintertag zufällig begegnet war.
» O Gott, ich sage Gott, obwohl ich seinen Namen eigentlich nicht aussprechen darf, aber ich tue es trotzdem, denn es gab nichts, was stimmte, als ich aufwachte, alles war falsch. Ich erinnere mich, daß ich dachte, es würde wieder ein Tag werden, der verging, ohne irgendwelche Erinnerungen zu hinterlassen. Noch ein Tag ohne Spuren, nur wie ein Wind, der rasch vorbeizieht. Einer dieser Tage, die ich die hohnlachenden Tage zu nennen pflege.
Es war viel zu früh, ich
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