Tea-Bag
das weiß ich.
Die Straßenbahn geht nach Nydalen, fährt dabei aber quer durch die Stadt. Es ist wie eine Reise von einem Land, das Stensgården heißt, in ein anderes Land, das Zentrum heißt, und dann überquert man wieder eine Grenze und landet in Nydalen. Manchmal denke ich, daß Schweden eigentlich nicht an Dänemark oder Polen grenzt, oder was es ist, Estland vielleicht, sondern daß Stensgården ein Land ist, das an Zentrum grenzt, welches wiederum ein anderes Land ist, durch das man hindurch fährt, komischerweise ohne daß man seinen Paß vorzeigen muß, und dann wieder zurück nach Nydalen. Vielleicht wird bald ein Paßzwang eingeführt; wenn ich an Samstagabenden in die Stadt fahre, kommt es mir vor wie ein anderes Land, in dem man eigentlich nicht willkommen ist, jedenfalls ist man da nicht zu Hause.
In der Straßenbahn fing ich an zu überlegen, was ich da eigentlich machte, meine Großmutter schlief vielleicht noch, und sie kann genauso mürrisch sein wie lieb, aber das weiß man vorher nicht. Irgendwo in der Nähe der Brücke fing es an zu schneien. Ich finde Schnee schön. Aber ich wünschte, der Schnee wäre warm, wie Sand, nicht kalt. Warum kann der Schnee nicht mit dem Sand verwandt sein statt mit dem Eis? Aber es war schön. Der Schnee fiel auf den Fluß und auf ein Schiff, das gerade vom Kai ablegte. Die Sonne war eben über den Horizont gestiegen. Das habe ich noch nie gesehen. Vor allem gelb, aber auch ein bißchen rot, genau da, wo das Licht auf die Wolken und das Blau dahinter traf.
Ein paar Leute stiegen ein, einen Mann erkannte ich, er ist Grieche, glaube ich, und hat einen Zeitungsladen unten im Zentrum, er gähnte so, daß man ihm bis in die Eingeweide sehen konnte, und obwohl es reichlich freie Plätze gab, setzte er sich nicht. Dann kamen ein paar Typen, die vermutlich Fußballfans waren, mitten im Winter trugen sie blauweiße Halstücher und wirkten völlig verwirrt, als hätten sie irgendwo Winterschlaf gehalten und wären viel zu früh aufgewacht.
Noch nie habe ich so graue Gesichter gesehen wie ihre, grau wie die Steine draußen am Meer, wo Papa und ich im Sommer gern tauchen gehen. Da überkam mich so eine sonderbare Lust, es war schrecklich, aber ich bekam Lust, aufzustehen und von dem Slumgebiet zu erzählen, in dem ich geboren bin, ich wäre fast von der Straßenbahn abgesprungen, um mich selbst daran zu hindern.
Leute stiegen aus und ein, am Krankenhaus stiegen viele aus, vor allem Frauen, die da arbeiten. Und dann war ich wieder aus der Stadt heraus. Nydalen liegt seltsamerweise auf einer Anhöhe, es gibt dort kein Tal. Meine Großmutter hat herauszufinden versucht, warum es >neues Tal< heißt, wo es doch eigentlich ein Name mit >Berg< sein müßte. Aber sie hat nie eine befriedigende Auskunft bekommen, obwohl sie jeden fragt. >Der Pförtner im Haus ist schon mit den Nerven am Ende<, sagte Papa einmal zu Mama, >wenn sie mir ihrer Fragerei nicht aufhört, wird sie noch eingesperrt, weil man sie für verrückt hält.<
Nydalen besteht aus neun Häusern, die auf einem hohen Berg stehen, Großmutter hat gesagt, es ist vorgekommen, daß Menschen, die nicht mehr leben wollten, von diesem Berg gesprungen sind, aber sie sagt so viel, auch wenn sie meine Großmutter ist, kann ich euch verraten, daß sie maßlos lügt. Vielleicht kann Papa sie deswegen nicht ertragen. Sogar mich lügt sie an. Plötzlich ruft sie an und sagt, vier maskierte Männer wären in ihrer Wohnung gewesen, sie lebt allein, außer wenn sie Besuch von einer ihrer Kusinen hat, die irgendwo oben in Norrland wohnen, und sie hätten ihr ganzes Hab und Gut gestohlen. Aber wenn Mama dann hinfährt, fehlt nichts, bis auf irgendwas, was sie verlegt hat, und wenn Mama es dann findet, hat Großmutter nie etwas von maskierten Männern und einem Einbruch gesagt.
Großmutter lügt, das tun alle, ich auch, und Papa erst recht, aber Großmutter versteht es besser als alle anderen, ihre
Lügen wie Wahrheiten klingen zu lassen. Sie weiß nichts von diesem Land, sie sagt, früher hätte sie Angst vor den Leuten gehabt, die nachts kamen, um uns zu töten. Aber jetzt hat sie Angst vor der Kälte, sie wagt nicht, das Haus zu verlassen, sie findet es sogar im Sommer kalt, auch wenn es warm und schwül ist. Man muß heimlich lüften, sonst glaubt sie, es bringt ihr den Tod. Sie kann kein Wort Schwedisch, und als sie krank wurde und wir mit ihr im Krankenwagen fahren mußten, war sie sich sicher, daß die Ärzte, die sie viel zu
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