Tea-Bag
Freundin geworden ist, sie hat es mit Bestimmtheit gesagt, daß sie Laurinda heißt, genau wie ihre Mutter, die Alte Laurinda. Sie hat ein weißes Mal, das sich wie ein ausgetrocknetes Flußbett über ihre Wange schlängelt und über die Schulter nach unten verschwindet. Sie hat es mit Bestimmtheit gesagt, nicht, daß sie es bei Gott geschworen hätte, denn sie glaubt an nichts mehr, wie sollte sie auch, nachdem sie so lange als ein Mensch gelebt hat, den es nicht geben darf. Sie hat es auf eine andere Weise mit Bestimmtheit gesagt. Sie hat gesagt, wir leben in einer Zeit, in der niemand den Namen eines anderen Menschen mit Gewißheit kennen kann, niemand weiß mehr, woher jemand kommt oder wohin jemand unterwegs ist. Erst wenn man irgendwo angekommen ist, von wo man nicht mehr fliehen muß, kann man seinen richtigen Namen sagen, und der ihre ist Laurinda.
Neun Jahre war sie unterwegs, und alle haben sie mit unsichtbaren Schwefelpeitschen gejagt, damit sie nicht bleibt, damit sie weiterhin nicht existiert, nicht sichtbar ist, nicht innehält, sondern weiter und immer weiter zieht, als kreise sie in einer ewigen Bahn um sich selbst, endlos, in einer Bahn, die das Leben langsam in Tod und Leere verwandelt. Es ging so weit, daß sie allmählich sogar für sich selbst unsichtbar wurde. Wenn sie in den Spiegel schaut oder wenn sie an einem späten Abend vor einem Schaufenster stehenbleibt, sieht sie ihr Gesicht nicht mehr, das einzige, was sie sieht, ist ein Schatten, der sich bewegt, ruckartig, als hätte selbst der Schatten Angst vor dem Eingefangenwerden.
Und auch innerlich ist sie unsichtbar; wo es einmal Erinnerungen gab, sind jetzt nur noch Schalen wie von Nüssen übrig, die ein Affe gefressen hat, keine Erinnerungen, nur Schalen von Erinnertem, nicht einmal die Düfte sind geblieben,
alles ist weg, an die Musik, an die Lieder, die ihre Mutter, die Alte Laurinda, ihr vorgesungen hat, erinnert sie sich nur noch als an ein fernes Rauschen.
Zuweilen konnte sie ein unerklärlicher Zorn erfassen, wie ein Vulkan brach er aus ihr hervor, ein Vulkan, der tausend Jahre geschlafen hat und plötzlich mit Gebrüll aufwacht. Dann schrie sie ihre Mutter an: Sei endlich still! Still! Hör auf zu reden. Warum kannst du deinen Mund nicht geschlossen halten? Es kommen keine Worte mehr, sondern die Eingeweide drängen heraus. Sei still!
Du mußt mir nicht dauernd erzählen, daß der Kopf meines Vaters von einem Granatensplitter abgetrennt wurde. Ich trage den Splitter in mir, er zerreißt mir das Gedärm. Ich will nicht von dem reden, was meinem Vater passiert ist, es ist so ekelhaft, aber du zwingst mich dazu, weil du nicht still sein kannst! Du redest so viel, daß ich anfange, alle Wörter zu hassen. Ich weiß nicht mehr, was sie bedeuten, bedeuten sie überhaupt etwas? Wenn ich dich frage, fängst du an, von etwas ganz anderem zu reden. Ich bekomme keine Antworten, und ich begreife nicht, wovon du sprichst, aber das Schlimmste ist, daß du selbst nicht begreifst, was die Worte, die aus deinem Mund kommen, bedeuten. Ich werde verrückt, es riecht nach all den Worten, die du ausspuckst, wenn du jetzt nicht still bist, hören meine Nägel auf zu wachsen. Es ist wahr, du redest so viel, daß mein Körper nicht mehr funktioniert.
Ich weiß, daß du es nicht magst, wenn man darüber spricht, aber ich will, daß du genau weißt, wie es ist. Ich habe Schwierigkeiten zu pinkeln, obwohl man nicht darüber spricht, es ist so natürlich, daß es unnatürlich wird; als ich klein war, bildete ich mir ein, daß Pinkeln genauso schändlich ist wie Lügen, ich traute mich nicht, dir zu sagen, wenn ich mich naß machte, obwohl es ganz natürlich ist, alle Kinder machen sich naß. Warst du jemals selbst ein Kind? Du leugnest vielleicht,
daß du ein Kind warst, daß es etwas gibt, worüber deine Eltern dich belogen haben, war es so? Und deshalb quälst du mich?
Von dem anderen wollen wir gar nicht erst reden, ich bringe nichts mehr aus mir heraus, es tut immerzu weh, und was herauskommt, ist grün, wie klebriges Seegras, es ist so furchtbar eklig, daß ich kotzen muß. Was herauskommt, ist Galle und Scheiße. Und die Menstruation, das Blut strömt nur so, jederzeit, ohne jede Regelmäßigkeit, hast du dich nicht schon gewundert, warum ich mich so oft wasche? Aber es ist mir egal, nichts von dem, was du sagst, ist mehr wichtig.
Die Zehennägel wachsen, aber nicht die Nägel an den Fingern, doch, an den Daumen, die Daumennägel, aber nicht an
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