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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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nur ein anderes Wort für eine Schlinge um meinen Hals ist, weil ich eine Frau bin und kein Mann. Ich betrachte diejenigen, die in meinem Alter sind, die Mädchen also, die in diesem Land leben, nicht die jungen Männer, sei unbesorgt, ich betrachte sie heimlich, weil ich scheu bin und scheu bleiben will, das gedenke ich nicht zu ändern, selbst wenn ich einen neuen Namen verpaßt bekomme. Du würdest durchdrehen, wenn du sie sähest, die Mädchen also, sie verkriechen sich nicht hinter Tüchern und Respekt und Traditionen und haben keine Angst vor Vätern, die sich einbilden, sie könnten alles tun, wonach ihnen der Sinn steht. Ich sehe etwas, was ich bisher noch nicht gesehen habe, es ist vielleicht nicht gut, aber das will ich selber herausfinden, ich denke nicht daran, dich für mich antworten zu lassen, ich will selber antworten.

Bis zum heutigen Tag, Mama, warst du meine Heldin. Bis zum heutigen Tag. Aber jetzt bist du es nicht länger. Obwohl ich dich natürlich liebe, das tue ich, dessen kannst du gewiß sein. Ich werde dich lieben, solange ich lebe, ich könnte bestimmt mein Leben für dich geben, wenn es sein müßte, und ich weiß, daß du dein Leben für mich geben würdest, aber jetzt geht das nicht mehr; wenn wir uns aus dieser Höhle befreien wollen, müssen wir tun, was ich sage.
    So sprach sie manchmal zu der Alten Laurinda, es war der Vulkan, der alle glühenden Reste von Gefühlen und Gedanken ausspie, die sie nicht länger kontrollieren konnte. Und die Alte Laurinda hörte zu, obwohl sie das Gesicht abwandte und nie selbst das Wort ergriff.
    Plötzlich ist es, als stolpere sie jäh in einen Abgrund. Woher sie kommt, weiß sie nicht mehr, es ist, als ob sie jeden Tag an einem Ort aufwacht, an dem sie noch nie zuvor gewesen ist, mit einem Körper, den sie nicht mehr kennt, selbst ihr Herzschlag ist ihr fremd, als würde jemand in ihrem Leib hocken und einen geheimen Code klopfen, wie ein Gefangener, der seine Botschaft in die Welt hinausschickt, so klingt ihr Herz.
    Sie ahnt Düfte, die sie noch nie gerochen hat, Erinnerungen an Träume, von denen sie nicht einmal weiß, ob sie selbst sie geträumt hat oder ob jemand auf leisen Sohlen vorübergegangen ist, während sie geschlafen hat, und die Träume um sie herum ausgebreitet hat, als läge sie eigentlich auf einer Bahre und wäre schon tot. An einen Laster erinnert sie sich manchmal, an einen Trecker, mit dem sie am Rand eines Steilhangs unterwegs sind, und an das Pfeifen von Granaten, die um sie herum einschlagen. Das letzte, was sie von ihrem Vater sah, war, daß sein Kopf von einem Granatensplitter zerfetzt wurde, da waren nur noch sie und die Geschwister und die Mutter übrig, alle anderen waren weg. Nach Schweden gelangten sie auf einer Fähre, die zitterte wie ein gefangenes Tier, ihre Papiere hatten sie zerrissen und in

die Toilette gespült, denn das hatten die ungeschriebenen Flüchtlingsgesetze sie gelehrt, daß ein Mensch ohne Papiere schwerer abzuweisen, wegzustoßen ist, als Menschen, die noch einen Namen haben. So weit ist es gekommen, daß jene, die es nicht gibt, wahrer sind als jene, die sich weigern, ihre Identität aufzugeben.
    Sieben Monate verbrachten sie in einem Haus, in das es hereinschneite, und Herrgott, Schnee hatten sie noch nie gesehen, es war in Polen, ehe sie nach Schweden kamen. In diesem Haus lebte ein Zwerg, ein Mann, der nachts heulte wie ein Wolf, er lebte dort, seit er geboren war, und jede Nacht lief er mit einer Kerze herum und suchte nach sich selbst, nach dem, der er eigentlich war, er suchte nach dem Teil von sich, der verschwunden war, nach einem Meter Körpergröße, den ihm jemand gestohlen hatte. Als sie das Haus verließen, hatten Polizisten in grünen Uniformen sie auf die Fähre gescheucht und nach ihnen gespuckt.
    In Schweden wurden sie mit Socken, warmen Jacken und Teebeuteln versorgt und in eine ausgekühlte Jugendherberge gesteckt, ganz nah bei dem kalten und grauen Meer, das die Grenze bildete für alles, was vorher gewesen war. Es war, als hätten sie alle ihre Erinnerungen zerrissen, alles, was früher war, und sie zusammen mit den zerrissenen Pässen weggeworfen. Freundliche Menschen mit gefrorenem Lächeln hatten sie dort eingesperrt und waren anschließend einfach verschwunden. Nachts hatten sie in verlassenen Gärten frostgeschädigte Äpfel gepflückt und die Garben geplündert, die für die Vögel aufgestellt waren, es war Weihnachten, als sie hier ankamen, und das war der Moment, in

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