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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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jung fand, sie umbringen würden.
    Aber Großmutter, Nasrin heißt sie, kann etwas, das niemand sonst kann. Sie muß einem Menschen nur ins Gesicht sehen, dann kann sie sagen, ob derjenige, der vor ihr steht, sich gut fühlt oder nicht. Ich weiß es, ich kann zu ihr nach Hause kommen und traurig sein, aber trotzdem lachen, und dann sagt sie: >Warum lachst du, wenn du eigentlich weinst?< Man kann ihr nichts vormachen.
    In Nydalen stieg ich aus, der Schnee fiel jetzt dichter, der Boden wurde schon langsam weiß. Großmutter wohnt im Erdgeschoß des Hauses, das am weitesten vom Abhang entfernt liegt. Ich ging ins Treppenhaus, wo jemand >Schreck< an die Wand geschrieben hatte, und ich fragte mich, was ich da eigentlich machte. Warum war ich nicht zu Hause und schlief? Ich sollte aufstehen und mich auf den Weg in die Schule machen, nicht vor Großmutters Tür stehen. Aber ich klingelte und dachte, sie würde sich vielleicht doch freuen, daß ich kam. Sie hat mich lieb, das weiß ich, wenn sie bei uns zu Hause ist, kümmert sie sich fast nur um mich.
    Die Tür ging auf, und ich dachte erst, ich hätte mich in der Wohnung geirrt. Da stand jemand, ein Junge in meinem Alter, und er starrte mich genauso an wie ich ihn. Er war Schwede, das sah ich sofort, nicht weil er blond war, das war er nicht, sondern weil er diesen Blick hatte, den nur jemand hat, der hier im Land geboren ist, wenn er jemanden sieht, der nicht

hier geboren ist. Oh Gott, dachte ich, ich dachte es wirklich, das sage ich jetzt nicht nur so, aber ich sah direkt in ihn hinein und er sah direkt in mich hinein.
    - Wer bist du? fragte er.
    - Wer bist du? erwiderte ich.
    - Ich heiße Torsten und bin die Haushaltshilfe von Nasrin.
    - Meine Großmutter hat keine Haushaltshilfe. Du bist ein Einbrecher.
    Er versuchte zu protestieren, aber ich hatte schreckliche Angst, Großmutter wäre etwas zugestoßen. Von einer Haushaltshilfe hatte ich nie etwas gehört, das hätte ich gewußt, weil bei uns zu Hause über alles geredet wird, Papa liebt es, von Großmutter zu reden, obwohl er sie eigentlich nicht erträgt. Aber es war nichts passiert. Großmutter saß in ihrem Sessel und war ganz versunken in eine Talkshow im Fernsehen, obwohl sie kein einziges Wort versteht. Aber sie war froh, daß ich kam.
    - Heute nacht habe ich von dir geträumt, sagte sie. Ein roter Vogel saß auf dem Kissen und pickte neben meinem Ohr. Das Geräusch drang bis in meine Träume. Da wußte ich, daß du kommen würdest, jedesmal, wenn ich in meinen Träumen Vögel zu Besuch habe, weiß ich, daß du unterwegs bist. Wenn ich von Fischen träume, die zuckend am Strand liegen, ist dein Vater im Anmarsch.
    - Ich wußte nicht, daß du jemanden hast, der dir hilft. Großmutter wirkte einen Moment lang verwirrt, als wüßte auch sie nicht, daß sich ein fremder Mensch mit einem Staubtuch in der Hand in ihrer Wohnung befand. Dann winkte sie mich zu sich und flüsterte mir ins Ohr, das sei ganz geheim, das hätten sie und Mama hinter Papas Rücken ausgemacht, weil er so geizig ist. Es war Mama, die zahlte oder Großmutters andere Kinder bat, zur Bezahlung einer Haushaltshilfe beizutragen, und Papa durfte absolut nichts davon wissen.

Ich fragte, warum sie mich nicht gebeten hätte, zu putzen und ihr die Haare zu kämmen, und als sie sagte, sie wolle nicht, daß ich die Schule vernachlässige, schämte ich mich zum ersten Mal dafür, daß ich fast nie dort war. Aber das sagte ich nicht, ich zog meinen Anorak aus, und die ganze Zeit ging der, der Torsten hieß, herum und wischte den Staub von Großmutters vielen Fotografien. Großmutters Wohnung ist wie ein Fotoatelier, überall sind die Wände mit Bildern bedeckt, sogar auf der Toilette hängen alte Fotos, die so verblichen sind, daß man kaum die Gesichter und Körper der Menschen erkennen kann.
    Eigentlich dürfen solche wie wir wegen unserer Religion keine Fotos besitzen. Ich weiß nicht, womit das zusammenhängt. Aber Großmutter besteht darauf, sie sagt, die Fotografien halten böse Kräfte fern, sie hindern Menschen, die uns nichts Gutes wollen, die uns zur Flucht gezwungen haben, daran, in die Wohnung einzudringen. Wo immer sie sich befindet, wachen diese Augen über sie, und dann fühlt sie sich ruhig. Jedesmal, wenn ich bei Großmutter bin, stützt sie sich auf meinen Arm, und dann gehen wir herum und sehen uns die Bilder an. Auch wenn ich sie zwei Tage hintereinander besuche, ist es, als ob sie vergessen hätte, daß ich am Tag zuvor alle Bilder

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