Techno der Jaguare
Realitätsbezug haben.« – Mit trüben, wässrigen Augen ging Alexander so nah an den Bildschirm heran, als würde er seinen eigenen Ohren nicht trauen, als wollte er selbst diese Sätze herauslesen, diese merkwürdigen, schrecklichen Zeichen entziffern. Buchstaben und Wörter mischten sich ineinander, und mit unbeschreiblicher Wucht brachen die seit seiner Kindheit verschlossenen Empfindungen hervor.
»Die von Analphabetismus betroffenen Menschen sind sonst in keiner Weise geistig beeinträchtigt, sondern zeichnen sich sogar häufig durch besondere Talente aus« – fuhr die Computerstimme erbarmungslos fort. – »Vor allem die Analphabeten, die es in ihrem Leben zu etwas gebracht haben, sollten sich zu ihrem Analphabetismus bekennen und sich dessen bewusst werden, dass sie damit Millionen von Menschen das Leben erleichtern würden …«
»Deshalb bist du also gekommen!«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und stieß ein unmenschliches Geheul aus. Wie ein Verrückter stürzte er sich auf seinen Laptop und schleuderte ihn gegen die Glaswand. Die monotone Frauenstimme wurde von einem gewaltigen Krachen überdeckt. Die riesigen bunten Glasfenster zerbarsten, Scherben rieselten wie Kristalle zu Boden und verteilten sich klirrend im Raum.
Einer seiner Angestellten kam erschrocken zur Werkstatt gelaufen. Aber er konnte die Tür nicht öffnen, also ging er außen herum zu der zerbrochenen Glaswand.
»Lass mich allein!«, brüllte der Bildhauer.
Der Angestellte signalisierte den ebenfalls herbeigelaufenen Leibwächtern, wieder zu gehen. Nach einer Pause sagte Alexander mit brüchiger Stimme:
»Es ist nichts. Ich brauche nur Ruhe. Das war nur ein Versehen.«
Er ging zu Lisas Statue hinüber. Fast schon lebendig stand sie vor ihm, als würde sie atmen. Er ging um sie herum und betrachtete sie von hinten. Es schien ihm, als könnte die emporkriechende Schlange die Buchstaben auf ihrem Rücken nicht mehr bedecken. Er sah, wie sich die tätowierten Ornamente auf Lisas Haut bewegten. Er stürzte auf die Statue los, wollte die Schlange herunterreißen. Unter seinen Nägeln blieb trockener Ton zurück. Die Kratzer auf ihrem Rücken sahen aus wie die Konturen der Buchstaben. Erschrocken wich er zurück, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sank in sich zusammen.
***
Am nächsten Morgen stand Lisa vor seiner Tür. Ihre Augen strahlten. Sie trug ein Kleid, das bis zu den Knien reichte, ins Haar hatte sie eine Blume gesteckt. Alexander trug heute keine Brille, seine Wangen waren noch feucht von den Tränen, die Augen rot unterlaufen.
Sie gingen nicht ins Büro, sondern blieben im Flur am Aufzug stehen. Die leeren, einfarbigen Wände glichen denen in der Blindenschule. Alexander erinnerte sich an den Tag, an dem seine Mutter ihn nach längerer Zeit und auf Bitten der Psychologin zum ersten Mal besuchte.
»Macht dir das Kneten Spaß? Was knetest du denn so … Woran denkst du, wenn du Sachen aus Ton machst?« Nach und nach kamen die Worte seiner Mutter wieder an die Oberfläche. Er fühlte sich hilflos wie ein Kind. Gefühle, die er in seiner Kindheit vergraben hatte, kamen nun mit neuer Wucht in ihm hoch. Reue, Angst und Trauer nahmen Gestalt an, wie eine Skulptur. Der Schmerz hatte die Form eines hellgrünen Kleides, durchtränkt mit dem Duft seiner Mutter, eines von Kindertränen benetzten Kleides … Dann war der Besuch zu Ende, die Mutter wandte ihm den Rücken zu. Jetzt erblickte er Lisas Rücken und zuckte zusammen. Der Anblick riss ihn für einen Moment aus seinen Erinnerungen. Dann versank er wieder in ihnen … Seine Mutter ging weg, stieg in den Wagen des Bildhauers aus der Nachbarschaft. Alexander wollte sie rufen, ihr hinterherrennen … Ganz kurz glaubte er, dass es noch nicht zu spät sei, dass es noch einen Weg zurück gebe. Wenn er doch nur nach Hause zurückkehren könnte, dafür wäre er bereit, alles zu gestehen. Stundenlang würde er sich die Buchstaben einhämmern, sogar die Schläge würde er auf sich nehmen und auch das Gelächter seiner Mitschüler ertragen, wenn er sich doch nur aus diesem Gefängnis würde befreien können …
»Was ist mit dir?« Besorgt berührte ihn Lisa am Arm.
Alexander blieb stumm, zog sie grob zu sich und hielt sie fest in seinen Armen.
»Warum bist du nur gekommen?«, murmelte er mit brüchiger Stimme. Dann küsste er sie gierig.
»Du machst mir Angst.« Lisa versuchte sich aus seiner Umklammerung zu
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