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Techno der Jaguare

Techno der Jaguare

Titel: Techno der Jaguare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manana Tandaschwili , Jost Gippert
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daher schwieg auch sie eine Weile, bis sie dann selbst wieder das Wort ergriff. »Aber sag, wie geht’s dir? Wie war dein Tag?«
    »Gut«, antwortete er ausdruckslos.
    Lisa hätte ihn gern gefragt, wann sie sich wiedersehen würden, doch sie traute sich nicht.
    »Wann bist du fertig mit meiner Statue? Brauchst du mich noch als Modell?«, fiel ihr schließlich ein.
    »Sie ist schon fertig.«
    »Wirklich?« Sie zwang sich, überrascht zu wirken.
    Alexander schwieg.
    »Was ist denn mit dir? Ist etwas passiert?« Lisa wurde wieder nervös.
    »Nein, ich bin nur müde. Komm morgen vorbei.«
    »Willst du wirklich, dass ich komme?«
    »Ja, natürlich. Am besten so früh wie möglich.«
    »Okay.« Erleichtert atmete Lisa auf.
    Das Abendessen ließ sie sich aufs Zimmer bringen, und dann machte sie sich gleich an die Arbeit, das Interview und alles, was sie in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht hatte, zu Papier zu bringen. Um ihre Anspannung zu lockern, holte sie sich eine Flasche Wein aus der Minibar, die sie während der Arbeit leerte. Im Morgengrauen war der Artikel fertig. Zufrieden schickte sie ihn dem Chefredakteur. Er war tatsächlich gut geworden.
    Lisa blickte auf die menschenleere Straße hinunter. Vor ihren Augen gingen die Straßenlaternen aus, und in der langsam abnehmenden Dunkelheit kamen die Konturen des geschlossenen Cafés, des Zeitschriftenladens, der Straßenschilder und der Bäume immer deutlicher zum Vorschein. Es dämmerte. Lisa lächelte. Ihr Herz füllte sich gleichzeitig mit Freude und Trauer. Sie gab dem Wein die Schuld daran. Schließlich zog sie die Vorhänge zu und ging zu Bett. Erschöpft fiel sie sofort in tiefen Schlaf.
    ***
    Alexander konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Die von den Blitzen grell erleuchtete Werkstatt, Lisas erschrockenes Gesicht, die hinter ihrem Rücken versteckte Kamera und die Statue, die so exakt Lisas Leidenschaft wiedergab, vermengten sich in seinem Kopf wie Ton. Seine Gedanken trübten sich.
    Im Bett fand er die schwarze Augenbinde, die Lisa getragen hatte, und warf sie auf den Boden. Mit einem Ruck riss er das von ihrem Duft durchtränkte Laken vom Bett. Er schloss sich in sein Büro ein.
    »Lügnerin!« schwirrte es in seinem Kopf. Er nahm seine Brille ab und schloss fest die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er einen Briefumschlag auf seinem Schreibtisch. Lisa hatte ihr Honorar zurückgebracht. Er sah das Geld an – die bunten Scheine, deren Wert er nie zu unterscheiden wusste. Auch hierbei zweifelte er an ihrer Aufrichtigkeit. Dann fiel ihm ein, dass sie ihren Memory-Stick bei ihm vergessen hatte, und er ging hoch in die Werkstatt. Der Stick lag am Fenster, dort, wo Alexander ihre Tasche ausgeleert hatte.
    In den Artikeln ging es um sozial benachteiligte und geistig oder körperlich behinderte Menschen. Alexander öffnete alle Dateien auf seinem Laptop, auf dem ein speziell für Blinde entwickeltes Programm jeden Text in eine Audiodatei umwandelte. Mechanisch las eine elektronische Frauenstimme Wort für Wort vor, doch der in Gedanken versunkene Künstler hörte kaum zu. Die letzte Datei enthielt einen noch unvollendeten Artikel: »Analphabetismus – eine Beeinträchtigung der Lese- und Schreibfähigkeit, von der 12 Prozent der Weltbevölkerung betroffen sind. Sie reicht von individuellen Defiziten im Lesen oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen« – die roboterhafte Frauenstimme drang plötzlich in seine verstreuten Gedanken.
    »Es gibt verschiedene Grade der Erkrankung. Allen gemeinsam ist jedoch das Unvermögen, Buchstaben mit den von ihnen symbolisierten Lauten zu verbinden« – ratterte die Maschine emotionslos weiter.
    Wie versteinert hielt der Bildhauer inne.
    »Die Haltung, die die Regierung dem Analphabetismus gegenüber einnimmt, ist inakzeptabel. Analphabeten wird der Behindertenstatus verwehrt, wodurch sich die Regierung der Verantwortung entzieht, bei diesem Problem Abhilfe zu leisten. Dadurch werden die Rechte dieser benachteiligten Menschen beschnitten, und sie werden diskriminiert« – Alexander beugte sich über den Laptop und starrte, nun wirklich wie ein Blinder, auf den Bildschirm.
    »Da eine beeinträchtigte Lese- und Schreibfähigkeit seitens der Gesellschaft allgemein als Zeichen von Bildungsunfähigkeit angesehen wird, ist es schwer, die genaue Zahl der von Analphabetismus Betroffenen zu erfassen. Die Betroffenen nehmen meist alles auf sich, um ihr Defizit zu verbergen, weshalb auch die offiziellen Statistiken keinen

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