Tee macht tot
kam der Schneeräumer näher und schaffte es mit einer Fahrt, die Schneemauer auf weitere 20 cm anwachsen zu lassen. Fröhlich pfeifend sah der Fahrer auf sie herunter, als er vorbeifuhr.
Eigentlich wollte sich Esther Friedrichsen heute nicht mehr ärgern, aber jetzt blieb ihr fast nichts anderes übrig.
„Nur gut“, sprach sie säuerlich, „dass ich immer meinen Schirm dabei habe!“ Den Regenschirm als Kletterhilfe benutzend, stieg sie über die Schneemauer und blieb mitten auf der Straße stehen. Drohend schwenkte sie ihren Allzweckschirm. „Das nächste Mal warten Sie mit dem Räumen, bis die Leute über der Straße sind!“, rief sie dem unverschämten Mann hinterher. Der fuhr, ohne sie zu registrieren, weiter. „Was er wohl dazu sagen würde, wenn ich ihm den Schnee einfach wieder auf die Straße kippe?“, schimpfte sie vor sich hin und schubste mit der Schirmspitze den gröbsten Schnee von ihren Stiefeln. Ach dieser Tag brachte sie auf seltsame Einfälle. Doch so schnell wie die Entrüstung kam, so rasch war sie wieder verschwunden. Der arme Mann tat doch nur seine Arbeit, schalt sie ihre schlimmen Worte. Außerdem war sie sich darüber im Klaren, dass ihr Schirm zwar viel konnte, aber Schneeschippen ließ sich damit wirklich nicht. Also stiefelte sie weiter und erklomm die Schneemauer auf der anderen Seite. Ohne weitere Zwischenfälle passierte sie das Tor zu St. Benedikta und mühte sich die Auffahrt hoch.
Fast hatte sie den Eingang erreicht, als sich ihre Schritte ein weiteres Mal verlangsamten. Sorgenvoll dachte sie an Elisabeth Schirner. Gleich würde man am Tisch wieder zusammensitzen, was Esther mulmig werden ließ. „Das hätte ich mit meinen Teetrinkern noch besprechen sollen“, redete sie wieder vor sich hin. Wie sollte sie reagieren, falls sie auf den Brötchenklau angesprochen wurde? Sollte sie es empört abstreiten oder die Wahrheit sagen? Das schlechte Gewissen nagte sehr an ihr.
Zögerlich betrat Esther den Speisesaal, nachdem sie sich ihres Mantels entledigt hatte. Der Raum war in schlichtem Weiß gehalten, wirkte aber durch die vielen an der Wand hängenden bunten Bilder dennoch lebhaft. Den Boden zierten Terrakottafliesen, was den Senioren das Flair des Südens nahe bringen sollte. Was es angesichts des Spaßes, den sie hier hatten, auch tat. Für jedes der Stockwerke stand eine lange Tafel zur Verfügung, an der jeder Bewohner seinen gewohnten Platz hatte. Wenn man wollte, durfte man natürlich die Plätze untereinander tauschen, um auch mal mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wollte man aber nicht allzu oft, schließlich war den Senioren die Routine in ihren Unterhaltungen wichtig.
So langsam wie möglich schritt Esther Friedrichsen auf ihren Tisch zu. Im Moment konnte sie sich von der allgemeinen guten Laune jedoch nicht anstecken lassen. Angespannt wartete Esther die Reaktionen ab. Doch entgegen all ihren Befürchtungen wurde sie freundlich begrüßt und nach dem Befinden ihrer Teetrinker befragt.
Esther antwortete wahrheitsgemäß, dass es ihnen gut ginge und dass sie, wie nicht anders zu erwarten, halt so herumlagen.
Elisabeth Schirner lachte herzlich darüber; nichts deutete darauf hin, dass sie sich über irgendetwas echauffieren würde. Danach vertiefte sich wieder in eine Unterhaltung.
Ob sie es vielleicht gar nichts bemerkt hatte, überlegte Esther. Vielleicht verdächtigte sie aber auch jemanden Anderen? Nein, das wäre ihr aber unangenehm. Esther beschloss, erst einmal abzuwarten. Sollte jemand ungerechtfertigterweise des Diebstahls bezichtigt werden, würde sie sich auf jeden Fall stellen. So viel Anstand musste sein.
Esther nahm ihren Platz ein und lauschte den Gesprächen. Niemand wurde verdächtigt; überhaupt war Brötchenraub kein Thema. Erleichtert war sie darüber, aber nichtsdestotrotz, beichten musste sie das beim Pfarrer schon.
Die ersten Essen wurden an die Tische gebracht. Mit Essenwagen bewaffnet, lieferten sich Küchenhilfen ein Servierduell. Wer den ersten Tisch vollständig beliefert hatte, musste nicht durchs Haus eilen und den Leutchen das Essen bringen, die ihr Zimmer nicht verließen oder verlassen konnten.
Fröhlich klapperte das Besteck drauflos. Und hatte man gedacht, dass es bei Tisch der Senioren leise und kultiviert zuging, täuschte man sich. Sehr sogar!
Die illustre Gesellschaft stand der Art und Weise, wie Jugendliche ihre Nachmittagsaktivitäten in der Mensa besprachen, in nichts nach. Das Geschnatter quer über den
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