Tee macht tot
letzten Bissen, stellte sie fest, dass der nicht wie immer war. Abwartend blieb sie am Tisch sitzen. Vielleicht stellte sich das Sättigungsgefühl ja doch noch ein. Zehn Minuten wartete sie und lauschte den Gesprächen, die sie heute jedoch kaum fesselten. Sie gönnte sich einen Schluck Orangensaft, dann noch einen, aber der Hunger verging einfach nicht.
Das mag wohl auch der Grund gewesen sein, warum sie das tat, was sie tat, denn eigentlich machte sie nie etwas Unrechtmäßiges.
9
Esther ließ den Blick den Tisch entlangwandern.
Lachend sah Gertrud zu ihr herüber und wandte sich wieder Lenni zu, der seinen Charme bei ihr spielen ließ. Leicht lief sie rot an und senkte verschämt den Blick. Lenni hatte sicherlich wieder einen seiner üblichen Sprüche gerissen und um ein Stelldichein gebeten.
Einen Moment sah Esther Lenni verhalten an.
Mit wieherndem Hallo trat in diesem Augenblick die immer laute und hektische Frau Teifler an den Tisch.
Höflich wurde zurückgeschrien.
Für Esther kam dieser Moment äußerst gelegen. Niemand achtete gerade auf sein Frühstück, weshalb Esther kurzerhand und ungefragt in das Brotkörbchen griff, das neben dem Teller von Elisabeth Schirner stand. Die merkte es nicht.
Herzhaft biss Esther Friedrichsen in die dritte Semmel und ließ sie sich schmecken. Würde sie öfter ihr Frühstück verspätet einnehmen müssen, überlegte sich Esther, während sie sich endlich gesättigt fühlte, wäre sie in kürzester Zeit doppelt so dick. Das würde dem Dr. Liebherr sicherlich nicht gefallen und dem Rohrasch sowieso nicht. Sorgfältig wischte sie mit ihrer Serviette die Spuren des gestohlenen Mahls aus ihrem Gesicht und ging dann wie gewohnt ihrem Tagesablauf nach.
In ihrem Zimmer kleidete sie sich der Jahreszeit entsprechend um. Die braune Cordhose ließ ihre Hüften noch etwas rundlicher hervortreten, was Esther aber herzlich wenig interessierte, denn Misswahlen wurden in St. Benedikta nicht abgehalten. Nachdem sie sich noch in einen fliederfarbenen Wollpullover gezwängt hatte, zog sie Mantel, Mütze und Schal an. Sie griff nach ihrem Schirm, der stets hinter der Zimmertür an der Garderobe hing, und machte sich auf den Weg zum montäglichen Friedhofsbesuch. Sicherlich warteten ihre ehemaligen Teetrinker schon auf sie. Wenn sie also zum Mittagessen pünktlich sein wollte, musste sie sich wirklich sputen.
Klirrend war die Kälte, als sie nach draußen trat. Dicke weiße Schneeflocken trieben ihr ins Gesicht. Der kleine Hausmeister, der sonst auf seinem Bohnerwagen saß und den Linoleumboden auf Hochglanz brachte, hockte auf seinem Schneeräumer und schaufelte den Schnee vor sich her, während hinten Streusalz, das Eis zum Schmelzen brachte.
Unter Zuhilfenahme ihres Schirmes verließ Esther das Gelände. Mit eingezogenem Kopf überquerte sie die Straße, an deren Seiten der öffentliche Winterdienst schon eine Schneemauer errichtet hatte − aber nicht allzu hoch, vielleicht 10 cm. Mühelos stieg Esther Friedrichsen darüber hinweg und betrat den Bürgersteig auf der Friedhofsseite.
Mit eineinhalbstündiger Verspätung stand sie endlich vor dem ersten Grab. Normalerweise begann sie ihren Rundgang immer schon um 9:30 Uhr, doch Esther wollte es mit ihrem Ärger für heute gut sein lassen. Des Anstands wegen entschuldigte sich aber dennoch für die heutige Unpünktlichkeit und ebenfalls dafür, dass sie heute nicht so viel Zeit für das übliche Schwätzchen hatte. Das tat sie ebenso an weiteren fünf Gräbern. Bei ihrem nächsten Besuch wäre auch die Loibl dabei. Soweit ihre Teetrinker das nicht von dem Ort, an dem sie weilten, selbst sehen konnten, erzählte Esther ihnen von den Neuerungen, die der Rohrasch einführte, berichtete von den Neuzugängen oder sie erzählte einfach von allgemeinen Dingen, die ihre Teetrinker zwar nicht mehr betrafen, aber vielleicht doch von Interesse waren. Danach verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, den nächsten Montag wieder zu kommen, dann wieder pünktlich.
Die Kälte, die ihr durch den Aufenthalt auf dem Friedhof in die Glieder gekrochen war, ließ sie etwas steif den Rückweg nehmen. Sorgsam achtete sie auf ihre Schritte und trat auf den Bürgersteig, blieb stehen und schaute sich nach Autos um. Als sie die Scheinwerfer des fürchterlich großen Schneeräumers kommen sah, überlegte Esther, ob sie es noch hinüberschaffen konnte, blieb aber der Sicherheit wegen doch lieber stehen.
Das war auch gut so, denn schnell
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