Tee macht tot
sich Esther Friedrichsen ebenfalls vor und prüfte etwas verlegen den Sitz ihrer gelegten Locken, die so grau wie ein altes Taubennest waren. Sie spähte den Tisch hinauf und hinunter, doch keiner von den anderen schien etwas von dem Gespräch mitzubekommen.
„Sagen Sie mal!“, fragte Esther und beugte sich etwas vor, „reden Sie denn immer so putzig?“ Unterdessen nahm sie ihr Besteck wieder auf und schob sich eine Kartoffel auf die Gabel. Bei aller Verwunderung durfte man sein Mahl nicht deswegen erkalten lassen.
„Sie sind sehr freundlich, denn putzig wurde ihre Sprache noch nie genannt“, vergnügte sich Ingrid van Brekelkam darüber. „Aber ja, das tut sie.“ Man möge ihr die seltsame Ausdruckweise doch bitte entschuldigen, erklärte sie weiter, denn dafür läge ein einfacher Grund zu Grunde, und wenn es Esther interessierte, dann könne sie das gerne erläutern.
Esther Friedrichsen blickte kauend von ihrem Teller auf und packte ein weiteres Mal ihr Besteck zur Seite. Sicher interessierte sie sich dafür, warum ihr Gegenüber so putzig sprach, deshalb lud sie die Neue nach der Mahlzeit zu sich aufs Zimmer ein. Nach dem Essen genehmige sie sich gerne mal den ein oder anderen Kümmelschnaps, erklärte sie augenzwinkernd, den sie hinter verschlossener Tür auch selbst ansetzte. Wenn Ingrid also wolle, könne sie liebend gerne einen Kurzen mittrinken, wozu Ingrid van Brekelkam nicht Nein sagte. Und so nahm jede wieder ihr Besteck auf, um sich weiter dem Mahl zu widmen.
Nach einer weiteren Nachsalzung ihrer Speisen, über dessen Gemeinsamkeit sie sich köstlich amüsierten, verließen sie gemeinsam den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss und fuhren mit dem Lift in den dritten Stock hinauf.
„Einen schönen Hut haben Sie!“, lobte Esther Friedrichsen, um wenigstens irgendetwas zu äußern.
„Vielen Dank“, antwortete Ingrid van Brekelkam höflich.
„Haben Sie den schon lange?“
„Ja, den hat sie schon sehr lange.“
Dann war das Hutgespräch beendet, da man im Dritten angekommen war. Esther war Ingrid dabei behilflich, ihren Rollstuhl über die Aufzugschwelle zu rollen und schlurfte neben ihr her.
Schnell war Ingrid trotz ihrer Räder nicht. Dafür waren ihre Arme im Laufe der Jahre schon viel zu müde geworden. Da Esther aber selbst nicht allzu flink unterwegs war, passte das ganz gut.
Vor Zimmer Nummer 6 blieb Ingrid van Brekelkam stehen und setzte Esther davon in Kenntnis, dass sie schon vorgehen könne. „Sie holt nur noch kurz ihren Krambambuli.“ Und damit rollte sie in ihr Zimmer. Ihr Eau de Parfum hing noch schwer in der Luft, als Esther Friedrichsen sich erneut wunderte. Nachdenklich blieb sie im Flur des dritten Stockes stehen. Was war ein Krambambuli, überlegte sie. Sie schüttelte ihren Kopf und tappte weiter bis zu ihrer Zimmertür. Sie würde es ja gleich erfahren. Sie betrat ihr Zimmer, das prinzipiell den anderen glich.
Alle waren gleich groß, nur manche waren etwas größer, je nachdem, ob man alleine oder mit dem Partner darin lebte. Lediglich die Aussicht veränderte sich. Das variierte, je nachdem, ob man auf der rechten Seite oder der linken Seite des Ganges wohnte. Bei den Zimmern auf der linken Seite hatte man Aussicht auf den großzügig angelegten Park mit den Wiesen. Die Zimmer der rechten Seite konnten dagegen mit der Aussicht auf den Besucherparkplatz und den auf der anderen Straßenseite befindlichen Friedhof samt Kapelle überzeugen. Gerade bei den neugierigeren Bewohnern war diese Seite beliebt.
Einige Minuten später rollte Ingrid van Brekelkam über Esthers Türschwelle; auf ihrem Schoß lag ein kleiner Hund. Mit matten Augen schaute er Esther kurz an und rollte sich auf dem Schoß seines Frauchens ein.
Esther Friedrichsen nahm an, dass der Hund sicherlich schon sehr alt war.
Ja, das sei er, gab Ingrid ihr recht. Mit seinen 13 Jahren und drei Monaten sei er sogar sehr alt. Umgerechnet in Menschenjahre war er inzwischen 91 Jahre und 9 Monate, also fast 92 Jahre alt, was ja schon ein beachtliches Alter für so ein kleines Wesen war.
Liebevoll streichelte Esther Friedrichsen über das zerzauste Fell des kleinen Hundes. Unbeeindruckt schlief er weiter.
Berührungsresistent sei er im Laufe seiner vielen Jahre geworden, erklärte Ingrid seine ruhende Teilnahmslosigkeit.
Nachdem Esther zwei kleine Gläser mit ihrem selbst angesetzten Kümmelschnaps gefüllt hatte, nahm Ingrid ihren übergroßen Hut vom Kopf und legte ihn sorgsam auf einen der Sessel ab.
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