Tee macht tot
weil ich dadurch später mit dem Frühstück beginnen konnte, war mein Hunger groß, und als keiner hingesehen hat, habe ich mir ein Brötchen mehr genommen. Ich habe es genommen, nicht aus Niedertracht, das müssen Sie mir glauben Herr Pfarrer, es war wirklich nur der Hunger.“
„Aha“, machte der Pfarrer. „Und wessen Semmel haben Sie an sich genommen?“
„Die von Elisabeth Schirner. Aber sie isst sowieso meistens nur eine Semmel“, verteidigte Esther ihr Tun. „Im Grunde isst sie nie ihre zweite Semmel. Es war übrigens eine Laugensemmel, deshalb konnte ich auch keine Aprikosenmarmelade darauf streichen. Laugensemmeln isst man ja wie Brezen mit Butter.“
„Aha!“, machte Pfarrer Johann abermals. Und weil das alles war, was er dazu zu sagen hatte, nahm Esther das Gespräch wieder auf.
„Aber wenn die Elisabeth ihre Semmeln ja doch nicht isst, könnte sie ihre Semmel doch eigentlich auch abbestellen. Oder etwa nicht? Ich meine, wäre die Semmel nicht da gewesen, hätte sie mich auch nicht in Versuchung geführt.“
Immer noch schwieg Pfarrer Johann, was Esther etwas unruhig auf der viel zu kleinen Bank herumrutschen ließ. „Wären zwei Vater-unser ausreichend?“, fragte Esther bittend und versuchte, durch das Gitter einen Blick zu erhaschen. „Die andere Hälfte könnten Sie der Elisabeth Schirner auferlegen, denn in Versuchung führen, darf man ja schließlich auch nicht.“
Verständnislos schüttelte Pfarrer Benedikt den Kopf. Es war doch immer wieder dasselbe mit diesen alten Leuten. Dass der Beichtstuhl keine Tratschkiste war, schienen viele zu vergessen, aber dass ihm nun auch noch die Anzahl der Sühnegebete vorgeschlagen wurde, verwunderte ihn schon.
„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass die Elisabeth Schirner extra ihre zweite Semmel nicht abbestellt, weil sie weiß, dass du gerne mal etwas mehr isst?“
„Na hören Sie mal, Herr Pfarrer!“, protestierte Esther. „Ich habe noch nie eine dritte Semmel gegessen!“ Doch plötzlich stutzte sie. Wenn der Herr Pfarrer recht hatte, war die Semmel einfach nur eine übrige Semmel, die die Schirner der Allgemeinheit zur Verfügung stellte. Da fiel Esther ein Stein vom Herzen. Sie hatte das 7. Gebot nicht gebrochen.
Doch wenn das so war und sie gar keine Sünde begangen hatte, bat sie den Pfarrer nun, sich die zwei Vater-unser für ihre nächste Verfehlung aufheben zu dürfen.
Pfarrer Johann schüttelte den Kopf. Nein, meinte er milde, das dürfe sie nicht, und außerdem, würde er selbst entscheiden wollen, ob und inwieweit ein Sühnegebet gesprochen werden musste. Schließlich sei er Gottes Vermittler, doch nun würde er gerne wissen, was ihr sonst noch auf dem Herzen lege.
Damit waren sie auch schon bei dem größeren, viel gewichtigerem Problem angelangt. Esther fiel es schwer, über das wahre schicksalhafte Ableben von Frau Weber zu berichten. Schweren Herzens fasste sie allen ihren Mut zusammen: „Ich habe die gute Frau Weber auf dem Gewissen. Die anderen hatten nichts damit zu tun.“
„Bitte?“ Pfarrer Johann verschluckte sich fast an dem Gehörten.
Esther hörte sein Gewand rascheln und befürchtete, dass er gleich aus dem Beichtstuhl rennen und die Polizei verständigen würde.
„Ich verstehe nicht ganz“, beugte der Diener Gottes jedoch sein Ohr näher an das Gitter.
Nach ein paar Atemzügen, die Esther nahm, um ihre Gedanken zu sortieren, versuchte sie, ihm zu erklären, was sich in Frau Weber Zimmer zugetragen hatte. Am Tee habe es gelegen, dass Frau Weber nach hinten gekippt sei, genau genommen, an der Kamille.
Daraufhin ließ auch der Herr Pfarrer ein paar Atemzüge vergehen, schließlich wollte diese Information erst einmal verdaut werden. Dann meinte er, dass es wohl eher nicht am Kamillentee gelegen haben konnte, zumindest war ihm nicht bekannt, dass schon jemand daran gestorben sei.
„Sind Sie sich da auch ganz sicher?“, bohrte Esther. Das wollte sie unbedingt zu ihrer eigenen Beruhigung noch einmal hören.
„Ja“, wiederholte Pfarrer Benedikt. „Kamille ist nicht tödlich.“
„Na denn!“, atmete Esther erleichtert auf. Der Druck der letzten Nacht fiel von ihr ab. „Wenn das so ist und ich in diesem Fall auch keine Sünde begangen habe, spare ich mir die zwei Vater-unser für das nächste Mal auf.“ Somit habe sie quasi eine Sünde gut; der liebe Herrgott stünde bei ihr in der Schuld.
Da wurde der Herr Pfarrer aber doch ärgerlich, denn erstens wollte er
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