Tee macht tot
sehr hatte anmerken lassen. Der stechende Blick, die herabhängenden Mundwinkel und das nachlässige Äußere waren ihr unangenehm. Sie würde Margot bitten, sich um diese Bewohnerin zu kümmern. Die resolute Margot ließ sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen.
„Schäm dich was Mutter!“, platze Ben heraus, als sie wieder alleine waren, und stand auf.
„Ja ja“, grummelte Agatha. „Nachdem du deine Mutter nun abgeschoben, die im Übrigen ihr ganzes Leben für dich geopfert hat, gibt es nun nichts weiter für dich zu tun.“
Dieser Aufforderung wollte Ben nur zu gerne nachkommen. Erleichtert stand er auf und zog sich sein braunes Jackett, das er an die Stuhllehne gehängt hatte, über. Sich jetzt noch auf eine Diskussion einzulassen, war ohnehin sinnlos. Außerdem war er wegen der Aufzugsache noch viel zu aufgebracht. Er wünschte seiner Mutter, dass sie glücklich werden würde; wenn sie etwas benötigte, könne sie gerne bei ihm anrufen, hoffte jedoch insgeheim, dass das nie geschehen möge. Den nächsten Anruf erwartete er, wenn ihm ihr Tod übermittelt wurde. Darauf baute er. Darauf hoffte er.
Als könne sie seine Gedanken lesen, pfiff sie ihn an. „Sicher, ich melde mich, wenn ich tot bin. Ich besuche dich aus meinem Grab heraus.“ Unsanft schob sie ihren Sohn aus dem Zimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Perplex stand Ben davor. Doch, als er ihre Worte etwas sacken ließ, machte sein Herz einen freudigen Hüpfer. Endlich war er dran, sein Leben zu genießen. Keine Anrufe von verärgerten Nachbarn mehr, keine Polizei, kein griesgrämiges Gesicht … und die Tochter von Tanja Schlüter. Pfeifend machte er sich auf den Weg in seine Freiheit.
Statt des Aufzugs entschied er sich, das Treppenhaus zu benutzen. Fröhlich lief er den Gang hinauf und sprang die Treppe fast kindlich hinunter. Vor dem Haupteingang hatte er schon beinahe die beiden Damen, die er vorhin im Flur des dritten Stockes gesehen hatte, eingeholt. Nett sahen sie aus, wie sie vor ihm nebeneinander durch die automatische Tür traten. Oder rollten. Besonders die, mit dem schleppenden Schritt und den roten Wangen, den freundlichen Augen, dem korpulenten Umfang, fand er reizend. So eine Mutter hatte er sich ein Leben lang gewünscht, stattdessen hatte er das Garstigste bekommen, das auf der Welt herumlief, dachte er wehmütig. Aber dieses Kapitel war nun endgültig vorbei. Tief atmete Ben seine Anspannung hinaus.
Freundlich grüßte er die beiden alten Damen im Vorübergehen und meinte lachend, wie schön sie es hier doch hätten. Einer Eingebung folgend, blieb er jedoch abrupt stehen und wandte sich um.
Der Zorn war aus seinen Augen verschwunden, stellte Esther fest. Stattdessen lag darin nun so etwas wie Freude.
Charmant reichte er erst Ingrid, dann Esther die Hand und wünschte Ihnen viel Glück.
Verständnislos guckten Esther und Ingrid ihm hinterher, wie er in sein Auto stieg und mit überhöhter Geschwindigkeit vom Parkplatz brauste. Fast so, als wäre er auf der Flucht.
26
Einem Flirt war Leonhard Zirngibler, den alle nur Lenni nannten, nie abgeneigt. Sieben Ehen hatte er im Laufe seines bisherigen Lebens eingehen können, doch alle Frauen hatten die Scheidung wegen seiner unaufhörlichen Liebe zu Frauen eingereicht. Er war halt ein Charmeur, entschuldigte er sich stets mit treuem Blick. Er könne doch nichts dafür, dass die Vielzahl an schönen Frauen ihm die Treue so überaus schwer mache.
Mit 87 Jahren wurde seine letzte Ehe geschieden; danach hatte er sich entschlossen, keinen Ring mehr zu tragen. Freunde, Verwandte und Familie waren in all den Jahren ohnehin kaum mehr vorhanden und ohne Gäste, durchdachte er seinen Entschluss, lohne sich eine Hochzeitsfeier auch gar nicht mehr. Und mit dieser Intention ließ er sich in St. Benedikta nieder. Hier fand er genau das, was einem Single-Mann wie ihm den Lebensabend versüßen konnte: Frauen, in Hülle und Fülle! Dass er mit 89 Jahren ausgerechnet in einem Altersheim der einzigen und wahren Perle seines Lebens begegnen würde, damit hätte er jedoch nicht gerechnet.
Bei Esthers Einzug vor etwas mehr als drei Jahren hatte er sich verliebt. Heimlich. Man pflegte freundschaftlichen Kontakt zueinander, nicht mehr und nicht weniger. Sie war ihm viel zu kostbar, als dass er auch nur einen Versuch bei ihr gewagt hätte.
Esther ahnte von seinen Gefühlen nichts, genauso wenig wie die anderen. Nie hatte er sich etwas anmerken lassen. Die
Weitere Kostenlose Bücher