Teeblätter und Taschendiebe
Appies Nachbarn übriggeblieben waren. Jedenfalls war Tigger irgendwann unangemeldet bei diversen Familienfesten erschienen, hatte die Anwesenden unter ihrem ungekämmten schwarzen Haarschopf wütend angestarrt und die Zähne gefletscht wie ein in die Enge getriebener Kojote, sobald jemand Anstalten machte, das Wort an sie zu richten. Zuletzt war sie Sarah bei einer Beerdigung oben an der Nordküste über den Weg gelaufen. Tigger hatte einen haarigen braunen Poncho und eine schmutzige Cordhose getragen, die sie dekorativ in ihre schlammverkrusteten Wander-Stiefel gestopft hatte. Sarah beschloß, aus Rücksicht auf das Baby nicht weiter an Tigger zu denken.
»Wie fandest du eigentlich Theonias kleine Vorstellung gestern abend, Liebling?«
»Ich fand ihr Verhalten verdammt merkwürdig, wenn ich ehrlich sein soll«, antwortete Max. »Theonia schmeißt doch sonst nicht mit teurem Porzellan um sich, oder?«
»Bestimmt nicht! Theonia behandelt die Sachen normalerweise sehr viel vorsichtiger, als ich es je getan habe.«
»Meinst du, sie war beleidigt, weil ich sie gebeten habe, für uns in den Teeblättern zu lesen? Es war doch nur ein Scherz.«
»Das war ihr klar. Theonia ist schließlich nicht dumm. Aber du weißt ja, daß sie bei Zigeunern aufgewachsen ist. Ich glaube, sie hat sich einfach so verhalten, wie man es ihr für diese Situation beigebracht hat.«
»Wie meinst du das?«
»Sie hat in den Teeblättern etwas gesehen, was ihr nicht gefallen hat.« »Sarah!«
»Wenn du meine Antwort nicht hören willst, Schatz, solltest du mich auch nicht fragen. Du glaubst doch wohl nicht, daß Theonia ihren Kunden während ihrer ganzen Zeit als Wahrsagerin etwas vorgemacht hat?«
Die Lippen ihres Gatten zuckten verräterisch.
»Na schön, vielleicht hat sie ab und zu ein bißchen dazugedichtet. Sie hat mir mal erzählt, daß ihre Visionen bei einigen Kunden so undeutlich waren, als würde sie durch eine schmutzige Scheibe sehen. Aber sie mußte ihnen natürlich trotzdem etwas weissagen, schließlich hatten sie ihr drei Dollar bezahlt, also hat sie ihr Bestes getan. Bei manchen Menschen sieht sie aber schon etwas, sobald sich die Person gesetzt hat. In diesen Fällen hat sie immer hundertprozentig recht.«
»Ach ja, hundertprozentig?«
»Hat sie mir selbst erzählt«, insistierte Sarah. »Und Theonia lügt nicht. Mich hat sie jedenfalls noch nie belogen.« »Einmal schon«, erinnerte sie Max.
»Nur weil sie es für das Beste hielt. Danach hat sie es nie wieder getan.«
»Bist du da ganz sicher?«
»Allerdings. Du brauchst nur noch siebenunddreißig Tage zu warten, dann beweise ich es dir.«
»Ach ja?« sagte Max. »Was hat sie denn vorausgesagt?« »Einen Jungen.«
»Und was machst du, wenn der Sohn eine Tochter ist?«
»Dann werde ich keinem einzigen Teeblatt mehr glauben, und deine Mutter wird sich freuen. Du weißt ja, daß Mutter Bittersohn immer sagt, sie habe schon einen Enkel
und wünsche sich endlich eine Enkelin. Sie wird ohnehin denken, ich hätte mit Absicht einen Sohn bekommen, bloß um sie zu ärgern.«
In Wirklichkeit kam Sarah inzwischen glänzend mit ihrer Schwiegermutter aus. Letzte Weihnachten hatte sie rein zufällig Mrs. Bittersohns lang gehegten, nie ausgesprochenen Wunsch nach einem echten handgearbeiteten Teekannenwärmer wie dem von Agatha Christie erfüllt. Trotzdem fiel es Mrs. Bittersohn nicht leicht, plötz-lich einen Schwärm konservativer angelsächsischer Protestanten in ihrer Mischpoche zu haben, und eine Zeitlang konnte sie es sich nicht verkneifen, sie immer wieder spüren zu lassen, wie schön es doch gewesen wäre, wenn Max ein nettes jüdisches Mädchen geheiratet hätte.
Aber das war lange her, und Sarah machte sich deswegen keine Sorgen. Sie freute sich diebisch auf ihr Baby, fühlte sich hervorragend und genoß den Spaziergang in vollen Zügen. Das Senior Citizens' Recycling Center lag in der Nähe der North Station, und Max und sie hatten beschlossen, so weit wie möglich über die Flußpromenade zu gehen. Bei der kräftigen Brise, die vom Charles River herüberwehte, war Sarah heilfroh, daß sie die weiße Baskenmütze angezogen hatte, die zu ihrem Ensemble gehörte.
»Ich freue mich schon darauf, wenn ich die Jacke endlich wieder richtig zuknöpfen kann«, meinte sie. »Ich trage sie wirklich gern.«
»Vielleicht hätte ich dir besser ein Cape mitgebracht«, sagte Max. »Die Frau da vorn trägt auch eins.«
»Das braune Ding, das aussieht wie eine schmuddelige alte
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