Tegernseer Seilschaften
ihre Tochter, als sie ihren sehnsüchtigen Blick in Richtung Spielplatz bemerkte. Das war wohl wirklich eine der wenigen Sachen, die Lisa auf dem Land fehlte: ein groÃer Kinderspielplatz, auf dem sich alle Kinder des Viertels trafen. Im Tegernseer Tal hatte fast jede Familie einen eigenen Garten mit Rutsche, Sandkasten und Klettergerüst. Da war ein öffentlicher Treffpunkt zum Spielen überflüssig, jedenfalls für die Einheimischen.
Als Anne die drei Stockwerke hinauf zu Bernhards Wohnung stieg, spürte sie, wie ihr Herz immer schneller klopfte. Was, wenn eine andere in seinem Bett lag? Was, wenn eine andere nur bei ihm im Zimmer herumsaÃ? Wie würde sie sich verhalten? Ihre Phantasie lieferte ihr Szenarien in den verschiedensten Schrecklichkeitsabstufungen. Eigentlich wollte Anne das gar nicht, hier, jetzt, die Wahrheit. Hätte sie doch vorher anrufen sollen? Um ihm eine Chance zu geben, heil aus der Sache herauszukommen? Nein. Bernhard war erwachsen. Sie lebten eine reife Beziehung. Bernhard musste die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Wenn er fremdging, musste er die Konsequenz ertragen. Aber womit begann Fremdgehen? Wenn jetzt nur eine Frau in seinem Zimmer säÃe und er behauptete, sie sei eine Kommilitonin aus dem Doktorandenseminar? Was sollte sie da sagen? Was sollte sie glauben?
Anne zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss schob. In der Wohnung roch es nach frisch gekochtem Essen â Anne tippte auf TomatensoÃe mit frischen Kräutern, gekochte Nudeln glaubte sie auch zu riechen. In der Küche saà eine hübsche junge Frau, die sie nicht kannte. Ihre Schuhe mit den hohen Absätzen lagen neben dem Tisch. Ihre nackten FüÃe hatte sie auf einen anderen Stuhl gestellt. Anne konnte unter dem hochgerutschten Rock ihren Slip sehen.
»Hallo«, sagte Anne. »Ist Bernhard da?«
»Ich glaube, der ist in seinem Zimmer«, antwortete die Fremde.
Anne nahm all ihren Mut zusammen und riss, ohne anzuklopfen, die Tür auf. Lisa stand dicht hinter ihr, doch das merkte sie in diesem Augenblick gar nicht. Da saà er, Bernhard, blass, blond, ein bisschen zu wenig Haare für sein Alter, an seinem immer etwas zu klein wirkenden Schreibtisch. Die Schreibtischlampe war an, obwohl es drauÃen noch hell war. Rechts und links von ihm hohe Bücherstapel. Sein Bett war zerwühlt, aber niemand lag darin. Es lag auch keine Damenunterwäsche herum. Bernhard arbeitete.
»Anne!«, rief Bernhard. Anne glaubte in seiner Stimme, die besorgniserregend matt klang, einen Funken Freude zu hören. Bildete sie sich das ein? »Und Lisa, du auch â¦Â« Bernhards Stimme kam aus der Tiefe seines Körpers, als müsste er die Worte erst irgendwo ausgraben, als hätte er lange nichts gesprochen. Er hatte graue Ringe unter den Augen. Aber er war da. Anne fühlte, dass sich Tränen den Weg in ihre Augen bahnten. Bernhard stand auf und nahm sie in die Arme. An der Kraftlosigkeit seines Körpers spürte Anne, dass er traurig war. Es ging ihm nicht gut. Alle ihre Befürchtungen waren Hirngespinste gewesen. Das spürte sie nun ganz deutlich. Bernhard war schwach, und er war froh, dass sie da war. Die Frau in der Küche wartete auf einen anderen. Der hier war einfach nur krank, hilfsbedürftig. Wie hatte sie sich selbst derart ins Bockshorn jagen können?
»Wie geht es dir?«, fragte sie leise. Lisa stand etwas verloren im Raum herum, schämte sich, wie sie es immer tat, wenn Erwachsene sich umarmten. War das nicht komisch, zwei so groÃe Menschen, die einander festhielten?
»Es geht«, antwortete Bernhard matt. »Ich bin ein bisschen einsam, weil ich mich so schlecht fühle, dass ich mich nicht traue â¦Â« Der Satz blieb im Nichts hängen.
»â¦Â unter die Leute zu gehen?«, vollendete Anne ihn vorsichtig. Bernhard nickte.
»Aber du arbeitest?«
»Ich versuche es. Die Promotion muss ja auch mal â¦Â«
Vom Flur her wehte der Geruch des frisch gekochten Essens ins Zimmer. Anne hörte eine Männerstimme, die Frau von vorhin lachte keckernd.
»Hast du etwas gegessen?«, erkundigte sich Anne.
»Nein, das ging nicht. Ich sollte nichts essen, ich habe vielleicht ein Magengeschwür. Ich will das erst untersuchen lassen.«
»Komm, Bernhard, wir gehen jetzt essen! Lisa und ich haben einen riesigen Schnitzelhunger. Wir gehen in den Rumpler.«
»Au ja«,
Weitere Kostenlose Bücher